Allen Sinnen offen

Tinkos Haus, Strittmatters Feld

  • Wilhelm Bartsch
  • Lesedauer: 4 Min.
WIEDERgelesen: Allen Sinnen offen

Ich war neulich im »Laden« von Erwin Strittmatter, also in Boßdorf alias Bossdom, um dort tatsächlich jenes von der Ladeninhaberin im Roman geschnitzte bunte Glücksrad zu sehen und zu drehen.

»Das gibt es ja wirklich!« lautet in Boßdorf der Ausruf der Pilgerinnen und Pilger. Auch ich rief das, als ich sah, dass das Haus von Tinko samt dem dahinter liegenden Feld und dem Kiefernhag meinen Inbildern davon ganz entsprach. Ich hatte mir dieses Dorf und Tinkos Haus längst angelesen und weiß also auch, zumal als ehemaliger Rinderzüchter im Brandenburgischen und eben auch durch »Tinko«, um eine sich dramatisch verändernde Welt – so von der Dorfwelt weg hin zum »Weltdorf«. Strittmatter hat das in diesem Roman selbst schon thematisiert mit jenem Machbarkeitsoptimismus, den der westliche Privat- mit dem östlichen Staatskapitalismus besonders damals geradezu brüderlich teilte.

Dennoch bleibt Tinkos Vater, der Heimkehrer und Neubauer, seltsam blass gegen solch einen grandiosen Untergeher wie Großvater Kraske. Diese herrlich ergreifend komischen drei Seiten, als er und die Großmutter unvermutet erfahren, dass auch der andere Sohn, Matt, aus dem Krieg heimkehren würde! Hier nur, leider, ein Ausriss: »So eine Freude! Sie spürt ihr Reißen kaum. Sie kramt ein Stück Seidenpapier aus dem Vertikokasten. Der Großvater putzt den Kamm von Kopfstaub und Haaren rein. Er legt das rosrote Seidenpapier über die Kammfläche und beginnt zu blasen. Es blärrt, als ob die Kleinkinder der Nachbarschaft in unsere Stube gedrungen wären. Großvater schließt genussvoll die Augen und lauscht seinen Tönen nach. Er bläst einen Walzer. Die Großmutter singt dazu: ›Sieh, da kam ein blasses Weib …‹ ›Tamdada!‹ macht der Großvater auf dem Kamm.« Dann tanzt sie sogar, schaltet übermütig das Radio an – und der Spaß ist schon wieder vorbei: ›Weiß drein, an die Radaukiste haben wir nicht gedacht‹, brummt der Großvater und striegelt sich mit dem Kamm den Igelkopf.«

Ein Zeitfenster in »Tinko« zeigt die Großeltern als Liebespaar: »Die Minna, das ist meine Großmutter. Sie stand mit der Urgroßmutter auf einem kleinen Feldstück. Hackte die weißen Schlangenwurzeln der Quecken aus der Erde und sang vor sich hin: ›Hätt ich Tinte, hätt ich Feder,/ hätt ich Geld und Schreibpapier,/ würd ich dir die Zeit aufschreiben,/ die du hast verweilt bei mir …‹ ›Brumm nicht so albernes Zeug‹, raunzte die Urgroßmutter. ›Hack lieber sauber! Da hast du wieder so einen weißen Queckenwurm dringelassen. Er wird den Kartoffeln die Kraft wegfressen.‹ Großmutter sah schnell mal zur Chaussee. Kein August auf der Chaussee.«

Überall, allen Sinnen offen, Land und Leute, Natur, Liebe, Arbeit! Und der unvergessliche dramatische Höhepunkt: »Wenn die Treckeraugen zu Kraskes Feld hinüberglühen, trifft ihr Schein auf ein großes Spinnennest mitten im Kornfeld. Die zuckenden Glieder der Riesenspinne sind erstarrt. Daneben weidet friedlich ein goldenes Pferd. Der Körper des Tieres ist von dicken Peitschenstriemen überzogen … Auf einem Rainstein sitzt ein graues Männchen. Es hat die halbe Nacht gewütet, als ob es ein junger Mann sei, als ob es den Gang der Welt nach seinem Gutdünken zwingen könnte. Das Männchen ist dabei erstarrt. Es sitzt da, als sei es aus dem Oberteil eines Grenzsteins gehauen. Allein sitzt es, allein.«

Nichts in diesem Buch ist peinlich geworden, alles frisch geblieben. Strittmatter wollte in seinem zu Unrecht in die zweite Reihe seiner Werke gerückten Roman »Tinko« die Welt-Zeit noch so linear optimistisch ablaufen sehen, wie erst kürzlich etwa viele Neoliberale es taten. Aber es gelang ihm nicht recht. Seine große Kunst ist vielmehr, zyklische Zeit nacherlebbar zu gestalten, hier besonders die jahreszeitliche, auch die Jahreszeiten menschlichen Lebens – denn Tinko ist der Frühling, Großvater Kraske wird zur unabweisbaren Klage und Anklage des Winters.

Der Roman ist mir nun noch zeitgemäßer, als ich neulich in Boßdorf ahnen konnte.

Strittmatters »Tinko« ist derzeit lieferbar vom LeiV Verlag (352 S., geb., 12,90 EUR) und von Aufbau (388 S., brosch., 8,95 EUR). Bestellungen auch über ND-Bücherservice (030) 29781777.

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