Ganz großes Kino

Sie sind keine Stars, aber ohne sie kommt die Filmindustrie nicht aus – Statisten

  • Simone Schmollack
  • Lesedauer: 7 Min.

»Neulich musste ich raus in die Pampa.« »Wohin denn?« »Ach, was weiß ich, irgendwo mitten in die Einöde.« »Und?« »War Mist.« »Haben sie dir wenigstens mehr gezahlt?« »Nur den üblichen Satz.« »Mist.« »Essen?« »Auch Mist.« – Das ist keine neue Werbung für Flensburger Pilsner und auch keine für die Maulfaulheit der Norddeutschen. Es ist ein Dialog an einem Filmset. Die Beteiligten: zwei Statisten. Der kurze Wortwechsel umreißt, welche Rolle Statisten im Filmbetrieb spielen: die letzte.

Sie sind nicht mehr als Beiwerk, in Massenszenen, bei Straßenaufnahmen und Einstellungen auf Flughäfen und Bahnhöfen. Sie sitzen als Letzte in der Maske, und sie bekommen in der Pause als Letzte ihr Essen. Es gibt Statisten, die das wissen. Es gibt aber auch welche, die das nicht wahrhaben wollen. Man erkennt sie sofort. Sie haben einen besonderen Gesichtsausdruck. So eine Mischung aus dem abschätzenden Blick von Noodles in »Es war einmal in Amerika« (Robert De Niro), dem sinnlich-kühlen Lächeln von Denis Finch Hatton in »Jenseits von Afrika« (Robert Redford) und dem listigen Mundwinkelzucken des blinden Colonel Frank Slade in »Der Duft der Frauen« (Al Pacino). Mit diesem Gesichtsausdruck stehen sie in der ersten Reihe, immer. Und vorher sagen sie den Maskenbildnern, welche Schminkfarbe bei ihnen am besten aussieht. Auch wenn sie in dem Film, in dem sie gerade mitspielen, eine ganz andere Farbe tragen müssen.

Die Zahl der Statisten und der Statistenagenturen in Deutschland wächst. Wie viele es genau gibt, ist schwer zu sagen. Schätzungen gehen von einigen zehntausend Kleindarstellern bundesweit aus. Allein die Agentur »wanted« in Berlin, eine der größten und bekanntesten in der Branche, versammelt rund 23 000 Komparsen. Täglich kommen neue dazu. Man kann sie sich auf der Website von »wanted« angucken. Manche Komparsen sind in mehreren Kleindarstellerregistern eingetragen, sie arbeiten also für verschiedene Agenturen. Die Branche spricht von einigen hundert Agenturen in Deutschland, die wichtigsten Standorte sind Medienstädte wie Berlin, Hamburg, Köln, München.

Um Statist zu sein, muss man nichts können. Man muss nicht einmal gut aussehen und auch keine tolle Figur haben. Man muss einfach nur man selbst sein. Inzwischen werben Agenturen sogar damit, dass sie besonders hässliche Menschen sammeln und solche, die außergewöhnlich sind: gepierct, tätowiert, extrem fett, extrem mager, mit einem Kastengesicht oder einem Buckel. Irgendwann braucht ein Film genau so jemanden.

Trotzdem werden Kleindarsteller oft gecastet. Die Caster wühlen sich durch Kataloge mit den Fotos und den Maßen der Kleindarsteller. Auch jemand, der nur im Hotel an der Bar sitzt und verschwommen im Bild zu sehen ist, muss in die Szene und die Zeit der Szene passen. Deswegen fühlen sich viele Kleindarsteller, wenn sie ausgewählt worden sind, wie Stars. Und tun dann auch so.

Haben die das immer noch nicht im Kasten?

Man kann sie in Prototypen einteilen. Da ist zum Beispiel die junge Schöne. Im richtigen Leben ist sie Krankenschwester, früher haben alle zu ihr sagt: Du siehst verdammt gut aus, du solltest zum Film! Schon als Kind hat die Schöne versucht, berühmt zu werden. Ihre Mutter hat sie zu vielen Kindercastings geschleppt, aber geklappt es hat nie. Es gab immer eine, die noch schöner und noch talentierter war. Aber jetzt, über einen dieser Komparsenjobs, ergibt sich ganz sicher etwas, denkt die junge Schöne. Irgend jemand am Set wird schon sehen, dass sie eine der Attraktivsten hier ist. Das erzählt sie dann auch mal ganz gern den anderen Kleindarstellern. Man ist hier ja praktisch unter Kollegen.

Dann gibt es den Profi. Er weiß immer schon vorher, was passiert, so als sei er der Regieassistent. Nun ist es beim Drehen so, dass Szenen mitunter mehr als zehn Mal gespielt werden müssen. Weil die Kamera die Szene von allen möglichen Seiten aus aufnimmt. Das weiß jeder am Set, auch der Profi. Aber wenn er etwas mehr als drei Mal machen soll, wird er sauer. Dann sagt er: »Haben die das immer noch nicht im Kasten? Anfänger!« Er ist etwa Mitte 40 und ein richtiger Schauspieler. Er hat seinen Beruf studiert und Rollen in der »Lindenstraße« und »Soko Leipzig« gehabt. Als Kleindarsteller ist er natürlich komplett unterfordert, deshalb macht er alles nur halbherzig. Andere schreien sich die Seele aus dem Leib und zeigen auch nach Stunden einen Einsatz, als müssten sie ihr Leben retten. Der Profi aber bewegt tonlos seine Lippen und hetzt sich nicht ab. Warum er als Komparse arbeitet? »Weil es Spaß macht«, sagt er. Und nicht nur er selbst weiß, dass das gelogen ist. In Wahrheit ist der Profi nur mäßig talentiert.

Ein bisschen anders agiert die Insiderin. Sie weiß viel über Film und Schauspieler, fast könnte man sie eine Cineastin nennen. Doch im Gegensatz zur wahren Filmkennerin kennt sich die Insiderin vor allem mit dem Privatleben der Akteure aus. Gern erzählt sie beispielsweise, dass sie sich bei einem Dreh mal mit den Kindern von Till Schweiger unterhalten hat: »Die sind ja sooooo süß.« Zur Untermalung ihrer Rührung schlägt sie beide Hände vor der Brust zusammen und bekommt einen Blick, mit dem sie das Mutterverdienstkreuz gewinnen könnte. Für sie ist ein Tag am Komparsenset fast so wie eine Woche Hollywood: ganz großes Kino.

Das Mittagessen bekommt man umsonst

Anders steht es um denjenigen, der sein Geld mit der Kleindarstellerei verdient. Früher war er mal auf dem Bau, aber mit 50 hatte er dazu keine Lust mehr und ist ausgestiegen. Jetzt ist sein Leben das, was man neuerdings prekär nennt. »Drei Anfragen in der Woche wären gut«, sagt er. Aber drei Anfragen in der Woche gibt es fast nie. Leben kann man von Statistenjobs sowieso nicht. Komparsen verdienen am Tag 55 Euro, dafür lassen sie sich zehn Stunden lang am Set herumkommandieren. Für jede Überstunde gibt es fünf Euro zusätzlich, für den Nachtzuschlag 10 Euro. Die Nacht beginnt beim Film ab 22 Uhr. Wenn der berufliche Kleindarsteller von etwa 6 Uhr früh bis 23 Uhr in der Nacht arbeitet, hat er 110 Euro verdient. Das Mittagessen bekommt er umsonst.

Vermutlich träumen nicht wenige Statisten von einem Unfall, so wie es zwölf Männern im Sommer 2007 passierte, beim Dreh von »Walküre«, dem Film um das Hitler-Attentat am 20. Juli 1944. Tom Cruise spielt die Hauptrolle, Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Einige Szenen wurden in Berlin und Brandenburg gedreht. Jetzt klagen zwölf deutsche Kleindarsteller gegen die amerikanische Filmfirma United Artists, sie fordern elf Millionen Euro Schadensersatz. Was war passiert? Eine Szene spielt auf der Ladefläche eines Lkw, sie ist voller Soldaten. Zwölf von ihnen fallen bei den Dreharbeiten runter und verletzten sich. Der Lkw soll nicht ganz in Ordnung gewesen. Die Verletzten tragen Prellungen und Platzwunden davon. Sie sagen, es sei ihnen richtig schlecht gegangen, sie mussten ärztlich behandelt werden. Und dann sagen sie noch, dass die Verantwortlichen am Set gewusst haben, dass der Lkw kaputt war und dass das Unglück passieren musste. Ob sie das Geld wirklich bekommen, ist noch nicht klar.

Nur ernstgemeinte Interessenten

Es passieren immer mal wieder Unfälle mit Kleindarstellern. Nicht nur beim Film. Bei den Bayreuther Festspielen (Oper) hat sich in diesem Sommer ein Statist auf offener Bühne die Leiste gebrochen. Im 3. Akt der »Meistersinger«-Inszenie- rung von Katharina Wagner rutschte er aus und fiel so heftig hin, dass er sofort ins Krankenhaus musste. Das Pikante: Er gab den Adam und war nackt.

Auch beim Film muss man hin und wieder nackt herumliegen. Das wird dann ein bisschen besser bezahlt, mit 100 Euro. Und in den Mails, die die Agenturen für solche Drehs verschicken, heißt es: »Nur ernstgemeinte Interessenten.« Freizügigere Einsätze lehnt der Ab-und-zu-Statist ab. Er nimmt nur seriöse Angebote an. Im bürgerlichen Leben ist er Mathematiker. Weil ihm sein Alltag zwischen Zahlen und Akribie mitunter zu langweilig wird, nimmt er sich hin und wieder einen freien Tag und geht zum Film. Dort bekommt er Figuren und Outfits verpasst, die ihm und seiner Alltagskleidung beängstigend ähneln. Eigentlich könnte der Ab-und-zu-Statist in seinen eigenen Kleidern spielen.

Und dann ist da noch der alte Hase. Er ist schon seit über dreißig Jahren im Geschäft: »Mich fragen sie so oft an wie keinen anderen.« Früher, als er noch in seinem bürgerlichen Job war (Fernfahrer), hat er sich häufig an den Wochenenden einsetzen lassen. Er hat Klassiker mitgedreht wie »Derrick«, »Der Alte« und »Schimanski«. Jetzt ist er Rentner und zeitlich flexibel. Er ist an allen wichtigen Fernseh- und Kinosets vertreten, er dreht mit bei »Dresden«, »Hilde«, »Tatort«, bei Serien für RTL, Sat.1 und das ZDF, er könnte eine Sekretärin gebrauchen für die Koordination seiner Termine. »Am Montag hatte ich einen Drehtag am Stadthafen, und gestern war ich auf dem Messegelände.« Und was hat er dort gedreht? »Keine Ahnung, ich bin so gefragt, das kann ich mir nicht alles merken.«

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