Von Bischkek nach Brandenburg

Galina Silbermann aus Kirgistan hat in Nauen eine neue Heimat gefunden

  • Birgit Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.
Verliebt in Nauen: Galina Silbermann
Verliebt in Nauen: Galina Silbermann

Nauen, eine kleine Stadt im Brandenburgischen, rund zwanzig Kilometer westlich von Berlin, leidet wie viele andere ostdeutsche Orte an Bevölkerungsschwund. Spätmittelalterliche Fachwerkhäuser, die gerade renoviert werden, stehen leer und können, wenn auch nicht günstig, erworben werden. Auch das Café Merlin wartet auf einen neuen Besitzer, und man sieht eher ältere als junge Menschen auf den Straßen: Kleinstadtblues halt. Den kennt man, wenn man 19 ist, auch in Buxtehude oder im Allgäu.

Für Galina Silbermann hingegen war es Liebe auf den ersten Blick. »Als ich Nauen zum ersten Mal gesehen habe, hat mir die Stadt schon gefallen«, erzählt sie. Das war vor vier Jahren. Galina Silbermann war auf dem Weg von Pessin in den Berliner Vorort Falkensee und fuhr dann von Falkensee zurück nach Pessin, ins Aufnahmelager für Spätaussiedler, denn das ist sie, eine Spätaussiedlerin aus Kirgistan.

Mehr als zwei Millionen Aussiedler und Spätaussiedler, wie sie seit 1993 offiziell heißen, und ihre Familienangehörigen, sind seit 1989 in die BRD gekommen. Die erste Station war für alle das Grenzdurchgangslager Friedland, an das Galina Silbermann aber keine so guten Erinnerungen hat: »Von dort musste meine Tochter ins Krankenhaus gebracht werden«, erzählt sie, »weil sie meine Enkelin zur Welt brachte.« Und: »Ja«, fährt sie auf Nachfrage fort. Wir sind damals von Bischkek abgereist, obwohl sie hochschwanger war. Wenn wir gewartet hätten, hätten wir so viele neue Papiere für die Kleine gebraucht.«

Es ist ein weiter Weg von der Nähe von der kirgisischen Hauptstadt Bischkek nach Nauen im Havelland. Ein Weg, der in der Nähe von Engels an der Wolga begann. Galina Silbermann hatte Glück, zumindest im Vergleich zur kirgisischen Bevölkerung, die nach wie vor unter extrem schlechten Bedingungen lebt, denn sie stammt von den sogenannten Wolgadeutschen ab, einer deutschen Bevölkerungsgruppe in der Sowjetunion, die nach dem Angriff Deutschlands auf die UdSSR im Juni 1941 nach Sibirien umgesiedelt wurde. »Wir lebten in der Nähe von Krasnorjarsk«, erzählt sie, aber eines Tages reiste meine Großmutter, sie war bereits Rentnerin, nach Kirgisien. Sie kam mit einem Koffer voller Aprikosen und voller Begeisterung zurück. Kurz danach zog sie mit uns, ihrer Familie, nach Sokuluk in der Nähe von Bischkek, das damals Frunse hieß. Das Klima hatte es ihr angetan. Wir hatten ein Haus, und in Bischkek fand ich eine Arbeit in einem Elektronikwerk. Es ging uns gut.«

Das änderte sich mit der Perestroika, dem Anfang vom Ende der Sowjetunion. Zwar gab es weiterhin Arbeit, aber die wurde nicht mehr bezahlt. »Und der Busverkehr nach Bischkek wurde einfach eingestellt«, berichtet sie weiter. »Ich konnte nicht mehr ins Werk. Wir mussten uns also so durchschlagen.«

Wie schlägt man sich aber durch, wenn man weder Arbeit noch Einkommen, dafür kleine Kinder hat, die man durchbringen muss? Was kann man sich hier, in der finanzkrisengeschüttelten BRD, in der die meisten aber immerhin noch einen gesicherten Lebensunterhalt haben, darunter vorstellen?

»Ich hatte eine Kuh und einige Hühner. Das ist schon was. Einmal im Jahr ließ ich die Kuh decken und verkaufte das Kalb. 1994 aber wurde es ganz eng. Mein Mann verkaufte die Kuh. Er wollte nach Russland, um Arbeit zu finden, und brauchte das Geld, aber er kehrte erfolglos zurück. Also haben meine Mutter und ich Piroggen gemacht und auf dem Markt verkauft. Als das auch nicht mehr ging, habe ich mich für einige Jahre als Landarbeiterin verdingt.« Galina Silbermann hatte Glück, wie so vielen anderen Aussiedlern und Spätaussiedlern bot auch ihr die deutsche Abstammung einen Ausweg – den einzigen – der Misere zu entkommen. Für ihre Mutter und ihre drei Kinder stellte Galina Silbermann einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik. Ihr Mann sollte auch kommen, verlor sich dann aber mit einer anderen Frau.

Fünf Jahre später war es dann so weit: Sie hielt den Aufnahmebescheid in Händen: Im Februar 2004 landet die Familie Silbermann in Hannover und im Aufnahmelager Friedland. Um ein Familienmitglied reicher ging es von dort aus weiter in ein Lager im brandenburgischen Peitz, und von dort wiederum weiter nach Pessin. Eine freie Wahl des Wohnortes hatte sie nicht, Spätaussiedler müssen sich in dem Bundesland ansiedeln, dem sie zugewiesen werden. So füllt die BRD strukturschwache Gebiete mit Menschen auf.

Dass diejenigen, die aus diesen Regionen stammen, weggehen, lässt sich mit zwei dürren Worten begründen: Keine Arbeit! Auch Galina Silbermann hätte gerne einen Job und ist auf der Suche. Dass sie arbeiten kann, hat sie unter ganz anderen Umständen als den brandenburgischen unter Beweis gestellt, aber Brandenburg ist eben Brandenburg.

Dennoch ist sie glücklich: Nauen, meint sie, ist ein guter Ort, um Kinder aufzuziehen, denn außer der Enkelin hat Galina, die erst Mitte 40 ist, noch einen kleinen Sohn. »Es ist ruhig hier und es gibt keine Gefahren«, meint sie. »Man ist, wenn man will, schnell in Berlin.« Außerdem gefallen ihr die Stadt, ihre Fachwerkhäuser und das ganze Ambiente. Es war, wie gesagt, Liebe auf den ersten Blick.

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