Was ist das Schöne am Putzen?

Markus Orths: Porträt einer Sucht

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Linda Maria Zapatek, genannt Lynn, heißt die Protagonistin aus dem neuen Roman von Markus Orths: »1975 geboren, eins fünfundsechzig groß, Haarfarbe braun, Augenfarbe grün.« Und sie hat ein Problem – nein: sie ist ein Problem. Vor allem für sich selbst. Zurückgekehrt von einem sechsmonatigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik – man erfährt nicht genau weshalb, möglicherweise aber, so in Andeutungen, wegen Kleptomanie – findet sie durch Vermittlung eines Bekannten die Anstellung in einem Hotel als Zimmermädchen. Es dauert nicht lange, und ihr Leben läuft wieder »wie am Schnürchen«; sie beginnt sich wohlzufühlen, wenn sie dem vielen Staub auf den Zimmern zu Leibe rücken kann: »Und bald schon verschwindet Lynn hinter den Dingen des Hotels, fällt nicht mehr auf, es ist, als gehöre sie unsichtbar dazu, ein Inventar, das sich ab und zu kaum wahrnehmbar bewegt, ein Geist, der kommt und geht und kommt, wie er will, ein Heinzelmännchen, das im Vorbeigehen arbeitet.«

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille, Passion und Obsession zugleich eines »einfachen Herzens« – ganz in der Spur von Flauberts berühmter Geschichte einer Magd. Auf der anderen Seite wird der Leser dieser wundersamen Geschichte mit einer eigentümlichen Sucht konfrontiert.

Lynn nämlich verbringt, je länger sie im Hotel arbeitet, desto mehr Zeit unter den Betten von Gästen – vor allem, unentdeckterweise, nächtens, um hier, wie es einmal heißt, »die Kehrseite der Welt« zu entdecken: »unterm Bett da ist es hart und dadurch behaglich, dort, unterm Bett, da ist es eng und dadurch weit, dort, unterm Bett, da siehst du Dinge, die du nie gesehen hast ... und bevor ich unterm Bett lag, dachte ich immer, dass Männer und Frauen sich küssen, wenn sie morgens aufwachen, aber jetzt weiß ich, dass einer zum anderen sagt: Putz dir die Zähne, du hast Mundgeruch.«

Einmal wird sie dann Ohrenzeuge, wie sich ein Hotelgast eine Edelprostituierte aufs Zimmer holt. Lynn, die sich Telefonnummer und Namen der jungen Frau von einer Visitenkarte notieren kann, meldet sich bei Chiara, und es deutet sich – vorsichtig, spröde, unartikuliert – eine Beziehung zwischen den beiden jungen Frauen an. Doch zum Schluss erscheint Chiara nicht zur verabredeten Zeit am Bahnhof, um die von Lynn geplante und auch finanzierte Urlaubsreise zu starten. Lynn bleibt allein, und es ist ihr eigentlich auch ganz klar.

Ihre eigene Fantasie, mit der sie sich die Gemeinsamkeit mit Chiara ausgemalt hat, endet immer wieder nur in den Hotelzimmern, in denen sie hatten übernachten wollen: sie hat »immer nur an mögliche Flecken auf dem Teppich gedacht, die sie finden und entfernen würde, hat immer nur an Staub gedacht, hat immer nur gedacht, auch im Urlaub wird es Staub geben, wenn auch sandigen Staub, hat sich immer nur vorgestellt, wie sie Chiara bitten würde, sich unter ihr Bett zu legen, für eine Nacht nur, hat immer nur sich selbst gesehen, wie sie oben liegt, im Bett, und Chiara darunter, im Schatten, ja, hat Lynn gedacht, ich möchte, dass einmal nur jemand unter meinem Bett liegt, ich möchte, dass einmal nur jemand meinem Leben horcht.«

Orths ist das Porträt einer Sucht gelungen, die Geschichte eines tief ge- und verstörten Menschen, dessen Raum- und Zeitgefühl sich fatalerweise immer nur ans Passagere und Transitorische zu halten versucht. Ganz zum Schluss des Textes liegt Lynn unterm Bett ihrer Mutter: »Lynn legt sich auf den Boden und schiebt sich unters Bett. Sie niest. Ihre Lider schließen sich nicht. Dann wartet sie, die Hände am Lattenrost.« Was sie dort sucht? – Den Ursprung, ihre Herkunft, Zuwendung. Wer weiß ...

Markus Orths: Das Zimmermädchen. Roman. Schöffling & Co. 144 S., geb., 16,90 EUR.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal