Töne im Tunnel

Musiker in der Berliner U-Bahn müssen Mittwochs ganz früh raus

  • Jana Findeisen
  • Lesedauer: 7 Min.
In der Hauptstadt ist das Musizieren in der U-Bahn streng geregelt. Nur an festgelegten Plätzen in den Stationen darf gespielt werden, einmal pro Woche vergeben die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) dafür Genehmigungen. Wer lieber mobil ist, muss mit Ärger rechnen: In fahrenden Zügen ist das Musizieren verboten.
Einer der begehrtesten Plätze für Musiker ist der Ausgang der U2 nach Pankow am Alexanderplatz. Hier hat ihn Caroline Schließmann ergattert. Die 25-Jährige studiert normalerweise Szenische Künste in Hildesheim.
Einer der begehrtesten Plätze für Musiker ist der Ausgang der U2 nach Pankow am Alexanderplatz. Hier hat ihn Caroline Schließmann ergattert. Die 25-Jährige studiert normalerweise Szenische Künste in Hildesheim.

Woytek und Peter sind die Platzhirsche des Untergrunds. Jeden Mittwoch stehen der 70-jährige Pole und sein zehn Jahre jüngerer deutscher Kollege als erste vor dem Schalter im U-Bahnhof Rathaus Steglitz, an dem die BVG die Genehmigungen für das Musizieren in den Tunneln vergibt. Die Rollläden der Genehmigungsstelle sind um kurz vor halb Sieben noch unten, in der Backstube nebenan wird gerade der erste Kaffee gekocht. Drei Männer unterhalten sich auf Russisch – auch sie wollen sich Arbeitsplätze für die nächste Woche sichern.

Wer spielen will, muss zahlen

Eine gewohnte Situation für den polnischen Klarinettisten und seinen Freund Peter, beide spielen seit über 20 Jahren unter Tage. »Die Musik war immer mein Wunschtraum«, erzählt Peter, der seit seiner Kindheit fast vollständig taub ist und früher als Heizer, Telegraphist und Nachtwächter arbeitete. Mit 40 fing er an, Blues-Harp zu spielen, eine Art Mundharmonika, die er mehr fühlen als hören kann. Seitdem spielt der zottelige Charlottenburger, der immer seinen Hund Joker dabei hat, in der U-Bahn.

Woytek ist sogar schon 30 Jahre dabei. »Früher war es illegal, aber wir wurden geduldet«, erzählt er. Anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins 1987 legalisierte die BVG die Untergrundmusik. Jeden Mittwoch von sieben bis elf vergibt sie Genehmigungen, die dann für einen Tag und einen Spielort gelten. Rund 2500 Genehmigungen waren das im letzten Jahr. In der Woche sind es durchschnittlich 50, wobei jeder Musiker im Schnitt etwa zwei bis drei Spielorte für die nächste Woche beantragt. Die meisten der Musiker haben noch andere Jobs. Für Woytek, der gegen Gage in Kneipen und auf Geburtstagen auftritt, ist die U-Bahn ein Proberaum mit Verdienstmöglichkeit: »Ich übe hier im besten Hotel der Welt«, meint er, »und in der U-Bahn ergeben sich Kontakte für meine anderen Auftritte«.

Als der Schalter um Sieben aufmacht, sind etwa 20 Musiker da, keiner von ihnen mit Instrument, denn zum Spielen ist es noch zu früh. Woytek und Peter wissen: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Denn nicht alle Spielorte sind gleich einträglich, und wer als erster am Schalter steht, darf sich auch zuerst die Plätze für die nächste Woche aussuchen. Besonders gut verdienen kann man an Umsteigebahnhöfen wie Stadtmitte oder Hallesches Tor, sehr beliebt ist auch der Alexanderplatz. Früher wurde die Reihenfolge per Losverfahren entschieden, aber es kam zu Rangeleien und einem Schwarzmarkt für die besten Plätze.

Heute kann jeder der Musiker nur zwei der begehrten Spielorte für die nächste Woche beanspruchen – »damit jeder mal eine Chance bekommt«, erklärt die BVG-Mitarbeiterin hinter dem Schalter. Trotzdem haben die Musiker das Losverfahren informell beibehalten, damit es keinen Ärger gibt, wenn alle auf einmal um sieben da sind. Nur Woytek und Peter machen da nicht mit. Sie kämen zur Not auch um halb vier Uhr früh, um die ersten zu sein – ihre jüngeren Kollegen haben das schon ausprobiert.

Wer spielen will, muss zahlen – 6,60 Euro pro Tag im Voraus. So deckt die BVG die Kosten für die Vergabe und die in der Genehmigung inbegriffene Fahrkarte zum Spielort und zurück. Auch wenn die BVG damit keinen Profit macht – für die Musiker müssen diese Kosten erst mal wieder rein. »Wenn man 30 Euro in vier Stunden verdient, ist das viel«, meint Woytek. Sein schönstes Erlebnis liegt über 20 Jahre zurück: »1981 war das. Ich brauchte dringend Geld und stand am Jakob-Kaiser-Platz. Gleich beim ersten Lied, ›Petite Fleur‹, kam ein junges Mädchen und gab mir 100 Mark.« An schlechten Tagen kann es passieren, dass man nach mehreren Stunden gerade die Genehmigungsgebühr zusammenhat – oder nicht mal die. Wie viel man verdient, hängt natürlich nicht nur vom Bahnhof ab. Auch Können und Ausstrahlung des Musikers entscheiden, ob die vorbeieilenden Passanten etwas Geld in den Beutel werfen.

Am Schalter warten auch Tatjana aus der Ukraine und Wesdi aus Bulgarien. Die beiden sprechen kaum Deutsch – Amtssprache unter den U-Bahn-Musikern ist Russisch. Der 42-jährige Wesdi ist der Liebe wegen in Berlin – seine Frau ist türkischstämmige Deutsche. So gibt Wesdi auf seinem Akkordeon nicht nur bulgarische Schlager, sondern auch türkische Musik zum Besten. Er ist Autodidakt. Geigerin Tatjana hingegen hat eine klassische Ausbildung. In ihrer Heimatstadt Lemberg spielte die zierliche 46-Jährige lange in einem Kammermusikensemble und gab Musikunterricht. Als sich das Ensemble vor drei Jahren auflöste, machte sie sich alleine mit ihrer Musik auf die Reise – in die Tschechei, Spanien, Italien und sogar nach Mexiko.

»Man muss das mit Leidenschaft machen«

Auch Nathan ist musikalischer Globetrotter. Er ist zwar 20 Jahre jünger als Tatjana, aber schon doppelt so lange als Musiker unterwegs. Der junge Cellist aus Pennsylvania sieht mit seinen krausen Haaren, dem langen roten Bart und der runden Brille schon von weitem wie ein Abenteuerer aus. Seitdem er 18 ist, reist er durch die Lande – erst die USA, jetzt Europa. »Man muss das mit Leidenschaft machen«, sagt er. Er spielt moderne klassische Musik, für die U-Bahn-Kunden Bach, ab und zu auch mal ein Stück von Hindemith. Zuletzt war er in Budapest, und dahin will er auch wieder zurück – »das ist noch alternativer und mehr mein Ding«. Welche Stadt die beste Stadt für Straßenmusiker wie ihn sei, frage ich. »Ach«, zwinkert er, »in der einen Stadt sagen alle, man muss unbedingt in die und die Stadt. Ist man dann aber da, hört man die Leute von dem Ort schwärmen, aus dem man gerade gekommen ist.«

Glaubt man Ostap aus der Ukraine, dann sind die guten Zeiten in Berlin vorbei. »Früher war es hier leichter, mit Musik über die Runden zu kommen«, sagt der gut gekleidete 30-Jährige mit der schicken Tschapka, der nicht mit richtigem Namen genannt werden möchte, um seinen Ruf als seriöser Musiker nicht zu gefährden. »Vor Jahren hörten die Leute noch richtig zu, viele Leute hielten an«, erinnert sich Ostap, der am Konservatorium in Kiew klassisches Akkordeon studiert und dann als Orchestermusiker gearbeitet hat. Die Leute seien besser gelaunt gewesen und hätten seine Kunst noch zu schätzen gewusst.

Der Akkordeonist glaubt, dass das mit der neuen Konkurrenz aus Osteuropa zu tun hat, die in letzter Zeit immer häufiger mit Balkanklängen in den Zügen unterwegs ist. Eigentlich verbietet die BVG, mit Instrumenten und Klingelbeutel durch fahrende Züge zu ziehen. Wer das trotzdem macht, muss immer wachsam sein. Wenn der Sicherheitsdienst ihn beim »Schwarzspielen« erwischt, riskiert er einen Verweis vom Bahnhof oder sogar Hausverbot. Trompetern und Saxophonisten bleibt allerdings keine andere Möglichkeit. Ihre Instrumente sind in der U-Bahn sowieso verboten.

Caroline hat Glück: Gitarre darf man spielen, singen auch, und außerdem hat die Studentin bei den Zuhörern einen Stein im Brett. Die 25-Jährige ist die einzige Deutsche am Schalter. Sie studiert Szenische Künste in Hildesheim und verbringt gerade die Semesterferien bei ihrem Freund in Berlin. Weil sie in der Kinderbetreuung in Hildesheim nur während des Semesters arbeiten kann, verdient sie sich in der U-Bahn etwas hinzu. Sie darf sich ihre Plätze als zehnte aussuchen, der gute Spielort am Alexanderplatz ist für heute noch frei. Ihren größten Fan hat sie allerdings woanders: »An der Schlossstraße kommt regelmäßig ein Mann und wünscht sich ›Where Have All the Flowers Gone‹. Mittlerweile fange ich das schon an zu spielen, wenn ich ihn von weitem kommen sehe.«

Um halb drei baut Caroline ihren Klappstuhl am Gleis der U2 Richtung Pankow am Alex auf, holt ihre Gitarre heraus, legt den Koffer vor sich hin und spielt los. Menschen laufen gestresst vorbei. Eine Frau mit bunten Kniestrümpfen dreht sich um und lächelt, eine andere wirft ein paar Cent in den Koffer, ohne das Gesicht zu verziehen. »Du spielst schön!«, ruft ein junger schwarzer Mann Caroline im Vorbeigehen zu. Eine halbe Stunde später liegen bereits 10 Euro in Carolines Koffer – nicht schlecht.

Carolines Gesang versinkt im Gerumpel

Allerdings zieht es ziemlich im Durchgang zum verregneten Alexanderplatz. »Ich habe eine Strumpfhose und Kniestrümpfe an, darüber eine Jeans und obenrum einen Extra-Pulli und einen Windbreaker über der Jacke – das geht gerade so«, sagt Caroline und nimmt noch einen Schluck heißen Tees aus ihrer Thermoskanne – laut Etikett eine »Oase der Entspannung«. Kurz darauf kommen die Kontrolleure des BVG-Sicherheitsdienstes und fragen nach ihrer Erlaubnis. »Das ist nicht böse gemeint«, sagt der Mann in Uniform, »aber manche spielen eben ohne Genehmigung«. Bei Caroline ist alles in Ordnung.

Mit kräftiger Dolly-Parton-Stimme fängt sie wieder zu singen an. »The Light« heißt die Eigenkomposition. Auf dem gegenüber liegenden Gleis fährt ein Zug ein. Carolines Gesang versinkt im Gerumpel. Doch Mrs. Parton singt unbeirrt weiter.

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