nd-aktuell.de / 12.03.2009 / Kultur / Seite 13

Grammatik der Möglichkeiten

Julia Schoch erzählt von einer Frau, die an der Realität zerbricht

Mathias Runitz

Vor zwanzig Jahren wurde ein Volk in die Freiheit entlassen. Freiheit, welch großes Wort. Julia Schochs Roman erzählt von einer Frau, die daran zugrunde geht.

Ein halbes Leben hat diese Frau am nordöstlichen Rand der DDR verbracht, die zweite Hälfte an der nordöstlichen Peripherie der neuen BRD. Ein Ort, zwei Welten. Um ihr vierzigstes Jahr bricht sie erstmals auf in die Ferne. Sie fliegt nach New York, in das Mekka der Freiheit. Sie reist dorthin, um zu sterben. Dies ist die Mutmaßung. Schlaftabletten in tödlicher Dosis, das ist der Fakt. Zurück lässt sie zwei Söhne, den Ehemann, einen Liebhaber und ihre jüngere Schwester.

Aus der Erzählung der Schwester erfahren wir die Geschichte jener Frau. Das ist das erste Kuriosum an diesem Roman: Es wird hier ein Leben rekonstruiert, dessen Zeugin die Berichtende gar nicht war. Ein Leben, von dem sie nur Bruchstücke kennen kann; durch vage Eindrücke aus der Ferne, durch gelegentliche Besuche bei der Schwester, durch ein letztes Telefonat. Und, ja, durch die gemeinsam verbrachte, aber längst von den selektiven Mechanismen der Erinnerung verformte Kindheit. Kann Geschichtenschreiben – Geschichtsschreibung gar – so funktionieren? Und wie sonst könnte sie es? Das fragt dieses Buch. Sein erster Satz lautet: »Was weiß diese Zeit von einer anderen.« Punkt, Absatz.

Das zweite Kuriosum ist die Abwesenheit von Namen, die dem Erzählten zu fassbarer, weil benennbarer Gestalt verhelfen würden. Die Schwester ist die »Schwester«. Der Ehemann der »Ehemann«. Die Kinder sind die »Kinder«. Der Liebhaber ist der »Soldat«. Nie ist Berlin Berlin, immer nur die »Hauptstadt«. Und der Ort, in dem sich das Drama der Schwester ereignet, dieses artifizielle Garnisonsstädtchen nahe der polnischen Grenze, in dem damals von Unmengen meist nur auf Dienstdauer dort residierender NVA-Soldaten der große Krieg geprobt wurde, das heute aber seine Provinzialität vor nichts mehr verstecken kann und sich allenfalls noch gegen den zivilisationszersetzenden Fraß der Urwüchsigkeit zu wehren sucht, dieses Nest ist ganz offenbar, aber unausgesprochen: Eggesin. Dort ist die 1974 geborene Autorin Julia Schoch, Tochter eines NVA-Offiziers und einer Buchhändlerin, aufgewachsen.

In diesem gottverlassenen Ort, der dazumal zu einem Militärstützpunkt mit sozialistisch quadrierter Wohn- und Infrastruktur gemacht worden ist, weil seine »Nutzlosigkeit ein strategischer Vorteil war«, fristen die Schwestern eine unverwurzelte Jugend, immer in der Gewissheit, dass dies kein Platz zum Bleiben sei. Als das System zugrunde geht und der Ort seine Funktion verliert, ist die Erzählende jung genug, um das Weite zu suchen, sie flieht in die Welt, jettet interkontinental. Die etwas Ältere heiratet im Frühjahr 1989, hat ein Kind, eine abgeschlossene Ausbildung zur Schaufensterdekorateurin, bekommt Wohnung und Ehekredit. Sie bleibt über die Zeiten. Bis zum Schluss.

Für sie, über die hier gemutmaßt wird, mündet die Wende in das Ende der Träume. »Das oft fremde, unwillige Gefühl in den Jahren nach der Revolution kam auch daher, daß man nun, nachdem der eigene Wunschvorrat erschöpft war, nicht wußte, welcher Art von Träumen in dieser anderen Gesellschaft nachzuhängen war«, heißt es irgendwo. Die Freiheit, mithin die Eröffnung unbegrenzter Möglichkeiten, wird erlebt und empfunden als Sattheit, die jeden Appetit erstickt. Die Neubauwohnung weicht einem gemieteten Reihenhaus, der erlernte Beruf dem unerfüllten Pflichterfüllen der Hausfrau. Der Ehemann wird zum Schatten.

Es ist die empfundene Unbeweglichkeit, die Abwesenheit jeden Geschehens, die völlige Gleichgültigkeit des Gesamten gegenüber dem eigenen, vereinzelten, einsamen Dasein, das die Schwester mählich zermürbt. Der Gedanke, sich von allem zu lösen, selbst vom Liebhaber, dem Soldaten, der ein Relikt ist aus unfreier Zeit, reift »mit der Geschwindigkeit des Sommers«.

Sie hatte den Soldaten kennen gelernt, als er tatsächlich noch einer war, vor der Wende. Beim Tanz war sie ihm beigesprungen, als man ihm Prügel anbot – wegen eines Buches, das aus seiner Uniformtasche fiel. Ein spontaner, ein subversiver Akt. Er hatte es ihr in derselben Nacht noch gedankt mit heftiger Leidenschaft auf lehmigem Feldboden.

Einschneidende Jahre später, ruft er, längst kein Soldat mehr, sie wieder an. Von da an treffen sie sich immer wieder, zu heimlichen Ausfahrten ins kaum noch bewachte Grenzgebiet, zum Liebesspiel auf Autositzen, zur gelebten Erinnerung an »die vergessene Wildheit«, »die schöne Unvernunft«. Verzweifelte Versuche, etwas habhaft zu werden, das nie stattgefunden hat. Wenn sie bei ihm liegt, liebt sie nicht den Menschen, der sich auf sie wirft, sie liebt »eine Variante ihres Lebens«. Was hätte sein können, wenn es anders gekommen wäre?

Ernüchtert von der Welt, die ist, versteigt sie sich mehr und mehr in eine »Grammatik der Möglichkeiten« –, die sich mit der Orthografie der Wirklichkeit schwerlich verträgt. Tragisch aber wird eine solche Grammatik erst dann, wenn sie die Möglichkeiten gar nicht mehr dort konjugiert, wo sie hingehören: in die Zukunft.

Julia Schochs Roman ist interessant, durchdacht und gut geschrieben. Aber er opfert das sinnlich Konkrete der abstrakten Idee. Das trübt die Lektüre.