• Kultur
  • Preis der Leipziger Buchmesse

Würgegriff der Verhältnisse

Wilhelm Genazino: Ein Philosoph sieht eine Ameise, findet Trost – und wird fast verrückt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Auch durch diesen Roman von Wilhelm Genazino spaziert, auf leisesten Sohlen, der Selbstzweifel und bietet allem, was lebt, ein heiteres Du an. Natürlich gibt es die Zupackenden, die von Fröhlichkeit Geschlagenen, jene Nie-zu-kurz-Kommer, die von einem solchen Du nichts wissen wollen, weil sie nur immer Ich sagen. Selbstreferenz lastet aus und verschont davor, unsicher zu werden. Selbstbewusstsein, das nicht mehr nach seinen Gründen fragt, ist der perfekte Bodyguard, den man innen trägt: ein Seelenguard gleichsam.

Aber Genazinos Helden (falsches Wort!) stehen schutzlos im Wirbel ihrer Wahrnehmungen, in denen sich die Welt zwar um die Sonne dreht, ansonsten aber nur und nur im Kreis. In dessen Mitte diese Menschen, die mit ihrer Krankheit hadern, tief zu empfinden, sanft zu sein, einen Sinn fürs Wetterleuchten der Hintergründe zu haben. Wo andere, aufgetakelt zum möglichst exklusiven Kostenfaktor, durch die Markpassagen der Zeit jagen, da stehen Genazinos Helden (immer wieder dies falsche Wort!) da wie Fremdkörper, die auf etwas hoffen, und sei es wenigstens, dass an ihrem Stillstand inmitten des Geschäftigen der Efeu hoch wächst.

Es ist höchst bemerkenswert, auf welch langsame Weise die öffentliche Wertschätzung dieses Erzählers in Gang kam, und als sie dann in Gang gekommen war: wie unablässig es Lob und Ehrungen für ihn gab. Dabei hat er von Anfang an so geschrieben, wie er schreibt, und er schreibt tieftraurige Absagen ans Gewinnspiel.

»Wie wäre es, wenn es überhaupt nichts Unbekanntes auf der Welt gäbe und es nur die Aufgabe der Menschen wäre, in das Bekannte hineinzufinden?« Ein Aphorismus Genazinos, und schon dieser Satz deutet das schwere Schicksal an: sich in das Bekannte hineinzufinden, das misst der Existenz etwas unabänderlich Graues zu und uns Betroffenen viel Mühe, die ist nur zu bewerkstelligen mit freiwilligen Einbußen an Hoffnung und Erwartung. Des Autors relativ später Erfolg offenbart, dass da eine Gesellschaft die Wahrheit zunächst nicht wahrhaben wollte und von diesem Prosawerk daher liebend gern nur die flirrende, schwebende Leichtigkeit registrierte. Nunmehr aber, da die Bürgerlichkeit längst bleich durch ihre Risse in den eigenen Abgrund schaut, ist sie klug genug für die apokalyptischen Aquarelle des listigen Dichters.

Ein Mensch, der Warlich heißt und Philosoph ist, wahrlich, ein Fingerzeig. Und dieser studierte Philosoph arbeitet in einer – Wäscherei. Der Denker am Grund alles Denkens: im Schmutz der Welt. Seine Freundin leitet eine Sparkassenfiliale – wie viel Wellenlosigkeit soll ein Meer noch haben, um sich den Ruf einer stillgelegten Landschaft zu verdienen? Warlich wird von dieser Stille gelebt, zwischen Wirklichkeit und Sehnsucht klaffen tiefe, breite Spalten – vor denen er aber offenbar allein steht, obwohl es doch die Welt auch all vieler anderer Menschen ist. Der Roman erzählt – wie immer bei Genazino: beiläufig, mitunter fast schrullig, raffiniert unsentimental – die Geschichte einer Vereinsamung, die sich vor allem daran entzündet, dass sie nur in einer einzigen Seele stattzufinden scheint. Warlich leidet an dieser seiner unverstellten Wahrnehmungskraft; auf dem Fußboden des Cafés, in dem er sitzt, bemerkt er eine Ameise mit Flügeln: Hat die Instrumente für den Aufschwung und krabbelt doch nur. Das ist der Trost, und der Impuls für eine Idee: Warlich plant eine »Schule der Besänftigung«, will den »Aufbau des Glücks in glücksfernen Umgebungen« lehren. Am Ende aber wird die Psychiatrie stehen.

Das Glück schreibt weiß. Es ist nicht zu bannen, es ist nicht festzuhalten, es ist als Ereignis nicht zu erzählen. Es ist nur immer zu handhaben, wie man den Esel in Trab bringt: indem man ihm die Möhre vorhält, ohne dass er sie je erhascht. So entsteht Zugkraft: durch die Illusion, das Ziel sei schon erreicht. Warlich will das Glück und scheitert, das Scheitern ist der Beginn weiterer Glückssuche. Im Teufelskreis der unablässigen Projektionen, die an der Realität zerbrechen, diese aber auch, als unangreifbarer Wunsch, immer wieder neu übersteigen, kann der sensible Mensch nur verrückt werden. Zwischen »Zaudern und Übermut«. So der Titel von Warlichs Hauptwerk, das er nie schreiben wird.

Ein Philosoph, der nicht gebraucht wird – das charakterisiert unsere Zeit, die Fragen tötet, so wie man Mücken erschlägt. Das Glück hat in solcher Zeit den Status einer Handelsware und die Qualität einer Droge, die zuallererst gegen Ernsthaftigkeit, bedenkendes Innehalten und existenzielles Erschrecken zu helfen hat. Aber es gibt ein »Zurückschrecken vor den Würgegriffen der Verhältnisse«, ein »Beiseitetreten vor der Selbsteintrübung der Welt« – das rettet, aber macht am allerwenigsten glücklich. Weisheit macht nicht wirklich glücklich. Weil sie das Leiden an der Welt ausspricht, ohne es beseitigen zu können. Der Weg, den man für sich findet und geht, um es in der Welt auszuhalten, entfernt einen um just diese Strecke von der Welt. Das macht diesen Roman so schmerzhaft zerreißend, und wie dieser Warlich im Brei der Dinge tapfer idiotisch sein Zittern behauptet, das macht ihn – das richtige Wort! – zum Helden.

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