Opfer sollen wenigstens fliehen dürfen

Verein zählt 154 rechte Gewalttaten in Sachsen-Anhalt / Residenzpflicht verschärft Hilflosigkeit

  • Hendrik Lasch, Magdeburg
  • Lesedauer: 3 Min.
In Sachsen-Anhalt sind 2008 zwei Menschen von Rechtsextremen getötet und mindestens 226 verletzt worden, darunter viele Flüchtlinge. Der Verein »Miteinander« fordert für diese bessere Wegzugsmöglichkeiten.

Die Kerzen am Tatort brennen noch. Am 16. August vorigen Jahres wurde der Kunststudent Rick L. nach einem Diskobesuch in Magdeburg von einem bekennenden Rechtsextremen getötet. Freunde und Angehörige sammeln derzeit Unterschriften und Geld, um einen Gedenkstein errichten zu können. Der Täter steht derzeit vor Gericht. Dass seine Gesinnung für die Gewalttat ursächlich war, wird allgemein anerkannt: Die Straftat taucht in Statistiken rechter Gewalt sowohl des Innenministeriums als auch des Vereins »Miteinander« auf, der seine Zahlen gestern vorstellte.

Die früher erhebliche Diskrepanz zwischen den Zahlen hat dabei deutlich abgenommen. Das Ministerium spricht von 121 Gewalttaten im vergangenen Jahr, der Verein von 153. Allerdings sei zu erwarten, dass weitere Fälle in den nächsten Monaten bekannt würden, sagt Heike Kleffner von der Mobilen Opferberatung. Ihrer Einschätzung zufolge hat sich die rechtsextreme Gewalt im Land »auf hohem Niveau stabilisiert«.

Zudem hat sie nach Ansicht des Vereins ein zweites Todesopfer gefordert: Ein Obdachloser, der am 1. August in Dessau umgebracht wurde, sei der »tiefen Verachtung der Täter für sozial randständige Menschen« zum Opfer gefallen, sagt Kleffner. Eine solche Gewalttat könne nach einer seit 2001 geltenden Definition als rechtsextrem eingestuft werden.

Im Durchschnitt wird in Sachsen-Anhalt alle zwei bis drei Tage ein Mensch Opfer rechter Gewalt. In 61 Prozent der Fälle sind alternative Jugendliche betroffen, in 27 Prozent Ausländer, zumeist Flüchtlinge. Für sie fordert der Verein verbesserte Umzugsmöglichkeiten. Wegen der Residenzpflicht seien sie derzeit an einen festen Wohnort gebunden und könnten so den Tätern nicht aus dem Weg gehen, sagt Kleffner. Sie verweist auf einen konkreten Fall, in dem der Umverteilungsantrag trotz Verweises auf einen Überfall von den Behörden abgelehnt wurde. Kleffner fordert das Innenministerium auf, einen Erlass über freie Wohnortwahl für diesen Personenkreis herauszugeben. Zwar zeigt eine Auflistung rechtsextremer Übergriffe, dass es in Sachsen-Anhalt keine wirklich sicheren Orte gibt. »Entscheidend ist aber das subjektive Sicherheitsgefühl der Opfer«, die es meist in größere Städte ziehe, sagt Kleffner.

Generell beobachtet »Miteinander« eine weiter gestiegene Gewaltbereitschaft der rechten Szene. Täter schlügen etwa nach Demonstrationen oder Konzerten zu, sagt David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus des Vereins. So kam es am 6. Dezember nach einem Nazi-Aufmarsch in Berlin zu drei Übergriffen auf Bahnhöfen und in Zügen allein in Sachsen-Anhalt. Weil Musik eine anhaltend große Rolle als Aufputschmittel und bei der Ausprägung von Feindbildern spiele, fordert Begrich, auf aktuelle Entwicklungen in der Szene zu reagieren, die längst nicht mehr nur Rechtsrock höre. Stilrichtungen wie NS-Black-Metal seien aber bislang nicht verboten.

Gefährlich sind Rechtsextreme freilich nicht nur durch Gewalttaten, wie Begrich betont. Vor allem die Jungen Nationaldemokraten, die Nachwuchstruppe der NPD, verbreitet offensiv ihre radikalen ideologischen Positionen – teilweise auf ungewöhnliche und dadurch um so gefährlichere Weise, sagt Begrich: Aktivisten stiegen auch in Weihnachtsmann- oder Osterhasenkostüme, wenn sie vor Schulen ihre Flugblätter verteilen.

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