• Politik
  • Nach den Bluttaten in Winnenden und Alabama

»Seltene Form extremer Gewalt«

Der Amoklauf eines 16-Jährigen ist nicht einfach zu erklären – und zu begreifen erst recht nicht

  • Gesine Kulcke und Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Menschen die Kreisstadt Winnenden, 20 Kilometer nordöstlich von Stuttgart, stehen unter Schock. Die Albertville Realschule befindet sich mitten in einem Wohngebiet und ist Teil eines Bildungszentrums: zu dem Schulgelände gehören neben der Realschule ein Gymnasium und zwei Hauptschulen. Das Bildungszentrum wird täglich von mehr als 1000 Schülern besucht. Vor einem Jahr gehörte auch Tim K. dazu. Der 17-Jährige sei ein völlig unauffälliger Schüler gewesen, so die Schulleiterin. Er habe im vergangenen Jahr die Schule ganz normal mit der Mittleren Reife verlassen und eine Ausbildung begonnen. Gestern kam er zurück. In einem schwarzen Kampfanzug und bewaffnet.

Mit der Chipkarte in die Schule?

Der Notruf ging um 9.31 Uhr ein. Wer das Polizeirevier in Winnenden angerufen hatte, ist bisher nicht bekannt. Die Polizei drang in das Schulgebäude ein und fand in zwei Klassenräumen die toten Schüler und Lehrerinnen, darunter auch eine Referendarin, die erst seit vier Wochen an der Albertville Realschule unterrichtete. Es sei ein sehr dramatischer Tatablauf, erklärte Innenminister Heribert Rech später auf der Pressekonferenz. »Wir sind erst am Anfang der Ermittlungen. Die Polizeikräfte haben alles getan, was getan werden konnte.« Kultusminister Helmut Rau nannte die Tat die größte Katastrophe, die in einer Schule passieren kann. »Es ist unfassbar und macht unsäglich traurig. Die Seele der Schule, die tief verwundet ist, braucht viel Begleitung.« Auch aus den benachbarten Schulen sollen in den nächsten Tagen Schulpsychologen Schüler und Eltern betreuen.

Das Regierungspräsidium richtete für die Eltern eine Krisenhotline ein. Das Rote Kreuz und die Feuerwehr versorgte am Rande der Stadt in einer Mehrzweckhalle Eltern, die verzweifelt an die Schule gekommen waren, um ihre Kinder abzuholen. »Das kennt man ja sonst nur aus dem Fernsehen. Meine war zum Glück im dritten Stock«, erklärte eine Mutter, ihre elfjährige Tochter im Arm. Noch vier Stunden nach der Tat gab die Polizei an, dass die Opfer bisher nicht identifiziert seien.

Über die Eltern des Täters ist bisher wenig bekannt. Sie leben in einem kleinen schwäbischen Dorf, vier Kilometer von Winnenden entfernt. Von der kurvigen Hauptstraße führt eine kleine Stichstraße zu dem neu gebauten Einfamilienhaus. Das Haus wurde durchsucht, kurz nach dem der Notruf bei der Polizei einging. Die Eltern seien im Besitz mehrerer Waffen, von denen eine fehlte, so die Polizei.

Warnung vor voreiligen Schlüssen

Bereits kurz nach Bekanntwerden des Amoklaufes entflammte eine Debatte über die Konsequenzen, die aus der Tat gezogen werden sollten. Der Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Konrad Freiberg, brachte Zugangssicherungssysteme für Schulen ins Gespräch: »Es ist überlegenswert, wie in anderen großen Gebäuden Zugangssicherungssysteme mit Chipkarten zu installieren«, sagte Freiberg. Schärfere Maßnahmen wie Metalldetektoren an Schulen lehne er aber ab. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) mahnte eine bessere Vorsorge an, um derartige Taten künftig zu verhindern. Zur Prävention seien zum Beispiel »Erziehungs-Partnerschaften« zwischen Schulen und Eltern sinnvoll.

Die Kriminologin Britta Bannenberg rechnet nach dem Amoklauf von Winnenden indes mit einem Nachahmungseffekt unter Jugendlichen. »Diejenigen, die sich schon gedanklich mit so etwas befassen, die werden angeregt, es jetzt wieder zu versuchen«, sagte die Professorin der Universität Gießen im Deutschlandradio Kultur. Man könne jetzt sicher vorhersagen, dass in den nächsten zwei Monaten an allen Schulen Deutschlands mehr Bedrohungslagen entstehen würden. Der Dortmunder Soziologe Friedrich-Wilhelm Stallberg widersprach allerdings dem verbreiteten Eindruck, dass Vorfälle wie der in Winnenden oder 2002 in Erfurt häufiger geschehen würden. Amokläufe stellten nach wie vor eine äußerst seltene Form extremer Gewalt dar, betonte Stallberg. Im Unterschied zu früher werde heute nur öfter und in »einer nie gekannten Intensität über sie berichtet«. Auch seien die Täter bei Amokläufen wie in Winnenden immer jünger und wählten häufiger den »Tatort Schule« aus. Den Einfluss von Computerspielen schätzt Stallberg als gering ein.

Vor voreiligen Reaktionen warnte die GEW. Nötig sei es jetzt, Schüler und Angehörige psychologisch zu unterstützen. Dazu stehen in Baden-Württemberg seit Beginn des Schuljahres 2006/2007 schulinterne Krisenteams zur Verfügung. Diese haben auch die Aufgabe, notwendige Vorkehrungen für die Bedrohungen durch Gewalttäter zu treffen. Seit diesem Schuljahr existiert landesweit ein Rahmenplan für etwaige Krisenfälle. Ähnliche Pläne gibt es auch in anderen Bundesländern.

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