»Das Unheimliche ist diffus«

Atomreaktor im Berliner Idyll – vor 50 Jahren wurde das Hahn-Meitner-Institut eröffnet

  • Yvonne Jennerjahn
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Reaktor liegt mitten im Berliner Idyll. Die noblen Seegrundstücke am Kleinen Wannsee sind nicht weit, die Pfaueninsel, die Ausflugsgebiete im Südwesten, das Glienicker Schloss. Vor 50 Jahren, am 14. März 1959, wurde im West-Berliner Stadtteil Wannsee das »Hahn-Meitner-Institut für Kernforschung« (HMI) eröffnet.

Der Atomreaktor mit einem medizinballgroßen Behälter mit Flüssigbrennstoff und 50 Kilowatt Leistung war schon im Sommer zuvor in Betrieb gegangen. Die Initiative dafür hatten 1955 Professoren der West-Berliner Universitäten ergriffen. In einer Denkschrift an Senat und Abgeordnetenhaus forderten sie, »freie Atomforschung für friedliche Zwecke in Berlin zu ermöglichen«. Der neue Bundesminister für Atomfragen, Franz-Josef Strauß (CSU), unterstützte sie.

Im April 1957 wurden die Pläne für den »Berliner Experimentier-Reaktor BER I« mit dem »Berlin Amendment« zum »US-Atomic Energy Act« genehmigt – auch als Reaktion auf den bereits laufenden Bau des DDR-Kernforschungszentrums Rossendorf bei Dresden. Der Regierende Bürgermeister West-Berlins, Otto Suhr (SPD), legte im Mai 1957 den Grundstein für das Hahn-Meitner-Institut. Die Namensgeber Lise Meitner und Otto Hahn, Entdecker der Kernspaltung und Nobelpreisträger, waren Ehrengäste bei der Eröffnung.

Sicherheitssperren verschließen den Zugang zum Forschungsgelände. Beim Pförtner hängt neben Überwachungsmonitoren ein Blatt mit Hinweisen zum Verhalten bei »Reaktoralarm«. Über dem Gelände herrscht Flugverbot, denn die Anlage ist nicht gegen Abstürze gesichert. Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls sei »nahezu Null«, sagt Ina Helms, Sprecherin des Instituts, das inzwischen Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energie heißt.

Der erste Reaktor wurde längst gegen einen neuen ausgetauscht. »BER II« ist sein Name, Bautyp »Schwimmbad«, erst mit fünf und seit 1991 mit zehn Megawatt Leistung. Rund zweieinhalb Kilo Uran verbraucht der Reaktorkern jedes Jahr. »Kernkraftwerke der Brokdorf-Größe verbrauchen pro Jahr etwa anderthalb Tonnen Uran«, erklärt die Chemikerin. Die Brennelemente werden aus den USA bezogen und der Abfall geht auch dorthin zurück. »Etwa alle drei Jahre fährt ein Transport mit einer Art kleinem Castorbehälter nach Bremerhaven«, sagt Ina Helms. Dort geht das radioaktive Material auf See.

Auf der anderen Straßenseite, nur ein paar Meter vom Eingang zum Forschungszentrum entfernt, stehen Wohnhäuser. Eine Frau unterbricht die Arbeit im Garten. »Das Unheimliche ist diffus«, sagt sie. Vor einem knappen Jahr ist sie mit ihrem Mann aus der Stadt nach Wannsee gezogen, um dort den Ruhestand zu verbringen. Sie setzt darauf, dass die Anlage gut gesichert ist. Das ständige Rauschen der Lüftung sei störend, sagt die ehemalige Religionslehrerin noch. »Ich glaube nicht, dass hier jemand mit dem Bewusstsein lebt, gefährdet zu sein, die meisten sind sowieso HMI-Leute.«

Strom wird mit dem Atomreaktor nicht erzeugt. »Wir nutzen nur die Neutronen«, erklärt Ina Helms weiter. Unter extremen Bedingungen mit tiefen Temperaturen und starken Magnetfeldern werden unter Neutronenbeschuss Materialeigenschaften untersucht. Ein internationales Expertengremium entscheidet über Forschungsanträge und vergibt kostenfrei Messzeiten an Wissenschaftler. Und die Solarforschung ist als neues Forschungsgebiet dazugekommen.

Auch die Atomaufsicht im Berliner Umweltsenat wirkt zufrieden. »Außerhalb des Reaktors sind niemals Spuren von Radioaktivität gemessen worden, die auf den Reaktor zurückzuführen sind«, sagt der zuständige Aufsichtsbeamte Karl-Heinz Steinmetz. Störfälle mit Freisetzung von Radioaktivität habe es »definitiv nicht« gegeben.

Die Proteste der 80er Jahre gegen das Hahn-Meitner-Institut sind verebbt, die Regierungskrise im rot-grünen Senat West-Berlins 1990 vergessen. Umweltsenatorin Michaele Schreyer von der Alternativen Liste hatte damals die Betriebsgenehmigung für den erweiterten Reaktor verweigert. Nach dem Scheitern des Senats gab ihr Nachfolger im März 1991 grünes Licht. Zu den Kritikern, die den Reaktor weiter ablehnen, zählt Hartwig Berger, einst energiepolitischer Sprecher bei den Grünen. »Das Risikopotenzial ist ja weiter vorhanden«, sagt der Soziologe und Vorsitzende des Berliner Ökowerks. Kernforschung dürfe deshalb nicht in der Nähe von Wohngebieten betrieben werden. Alle fünf Jahre werden in der Umgebung Informationsbroschüren zum Katastrophenschutz verteilt.

epd

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