Der erschlagene Held

Durchs Gebirge, durch die Steppe zog … Der lange Marsch des Marschall Blücher

  • Dieter Uhlig
  • Lesedauer: 4 Min.

Dieses, am Donnerstag auf der Leipziger Buchmesse präsentierte Bändchen erinnert an die Ursprünge des sogenannten Weltbürgerkrieges (1917-1989). Der begann, als sich die Weltkriegsgegner mit ihrem Projekt einer globalisierten Weltmarktgesellschaft von Sowjetrussland mit einer alternativen Weltordnungsidee herausgefordert sahen. Als das begann, natürlich von Anfang an mit Gewalt – wie denn anders? –, setzte das unglaubliche emanzipative Hoffnungen wie anthropologische Verwerfungen frei. Von einigen Geschehnissen dieser ersten Jahre, von unserer »ideologischen Antike« also, wird hier authentisch, in der erwartungsvollen pathetischen Sprache jener Zeit erzählt.

Die Texte haben einen Brennpunkt: den opferreichen langen Marsch jener kühnen, vom 30-jährigen Arbeiter Wassili Blücher geformten und geführten 30. Schützendivision über den Ural, durch Sibirien, ihre opferreichen Siege in den Kämpfen von Spassk und Wolotschajewka, die das Ende des russischen Bürgerkrieges an den Gestaden des Stillen Ozeans erzwangen und Blücher zur Legende machten. Er war der erste Bürger der Sowjetrepublik, dem schon 1918 der neue Rotbannerorden verliehen wurde. Im November 1935 erzählte er Schriftstellern, die den historischen Stoff literarisch bearbeiteten, die Geschichte »seiner« Division und empfahl ihnen, sich Babels »Reiterarmee« zum Vorbild zu nehmen – auch weil hier die »negativen Erscheinungen« der Geschichte nicht ausgeschlossen werden (nach einer bissigen Bemerkung Radeks hätte Budjonny eine Darstellung bevorzugt, wo seine Reiter viel Marx lesen und kaum Wodka trinken, wohingegen es in der Realität eher umgekehrt war).

In seiner im Frühjahr 1938 verfassten biografischen Skizze »Marschall Blücher« stellt Konstantin G. Paustowski die menschlichen Qualitäten des Heerführers vor: »ruhig und bescheiden, mutig und einfallsreich«. Die an ihm zu beobachtende »Pose der Ruhe und Nachdenklichkeit« drückte einen Wesenszug aus: seine Fähigkeit, schweigend zuzuhören und aufmerksam zu beobachten. »Für Blücher, wie auch für Gorki, waren die Bücher und die Menschen die einzige Schule, die einzige Universität in ihren Jugendjahren.«

Blücher wurde verehrt von den Kämpfern seiner Division und gefürchtet von den militärischen Verbänden der »Weißen«. Allein die Nachricht, Blücher sei im Anmarsch, konnte in ihren Reihen panisches Entsetzen verbreiten. Sie wollten nicht glauben, dass die von Hunger und Kälte gezeichneten, schlecht bewaffneten und in Lumpen gekleideten Soldaten der Blücher-Division von einem einfachen Arbeiter geführt werden, dessen Fuß nie eine Militärakademie betreten hat. Sie verbreiteten Gerüchte wie, Blücher sei ein preußisch-deutscher General, den Lenin den Deutschen für teures Geld abgekauft habe. Tatsächlich verdankte Wassili den Namen seinem leibeigenen Urgroßvater, der vom Gutsherren wegen seiner Tapferkeit im russisch-türkischen Krieg Blücher gerufen wurde.

Paustowskis Skizze ist ein halbes Jahr in der Öffentlichkeit, da wird sein Held, der fünfte Marschall der Sowjetunion, verhaftet und am 9. November 1938, während eines von Berija geführten »Verhörs« erschlagen. Der Held des Bürgerkrieges war anders nicht zu brechen. Paustowski muss sich »hinter einer grünen Wand« verstecken, in den Wäldern südöstlich von Moskau. Ein wenig ergeht es seinem Text so wie »Ihm« in Dostojewskis »Großinquisitor«. Auch er erscheint inmitten eines monströsen Ketzerspektakels und wird wie »Er« aus der Öffentlichkeit verbannt: Geh hin, wo du herkommst, das Volk will und braucht deine hoch gepriesene Freiheit nicht, um glücklich zu sein!

Die hier empfohlenen Texte machen etwas deutlich, was in den heutigen konformistischen Erinnerungsritualen völlig verloren geht: die lichte Seite der Revolution, die befreiende Dimension von Zerstörung, die dem Nihilismus widerstehende Ordnung, die aus den Gewehrläufen kommen kann. Aber auch die verheerende Illusion, dass, wenn etwas Positives mit Gewalt erreicht werden konnte, man nur die Gewalt permanent zu machen braucht, um überall Gerechtigkeit und Glück zu verbreiten. Dem wird aus bitteren Erfahrungen widersprochen. Das darf uns aber nicht blind machen gegenüber der pluralen Natur historischer Prozesse. Das gediegene Nachwort »Auf den Amurklippen« gibt uns den guten Gedanken mit auf den Weg, dass es in der Geschichte der Oktoberrevolution auch eine heute völlig verschüttete Konstellation von »Zeiten des Glücks« (Ernst Jünger) gegeben hat, die uns wie eine alte Liebe Tränen abzuringen vermag.

Konstantin G. Paustowski/ Wassili K. Blücher: Der lange Marsch. Partisanen und Soldaten im russischen Bürgerkrieg. Mit einem Text v. Gawriil W. Enborisow und einem Nachwort v. Nadja Rosenblum. Hg. v. Wladislaw Hedeler. BasisDruck, Berlin 2009. 128 S., geb., 14 EUR.

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