ND ist nicht BILD

Buchpremiere in Leipzig: Geschichte der Zeitung »Neues Deutschland«

Der Amokläufer tötet sich selbst – titelte BILD gestern auf Seite 1 und lieferte das entsprechende Foto. Über Fragen des Geschmacks lässt sich bekanntlich streiten, weniger über das, was guten, gewissenhaften Journalismus ausmacht. Die BILD-Ausgabe vom Tag nach der Vorstellung des Buches »Zwischen den Zeilen. Geschichte der Zeitung Neues Deutschland« schien bekräftigen zu wollen, was Lothar Bisky vor ND-Lesern und interessierten Leipzigern bemerkt hatte: »Die Wahrheit ist nicht das Medium der Medien, sondern die Überraschung, der Schock, das Spektakulum.«

Der Politiker der LINKEN war eigens zur Präsentation des »wahren Innenlebens einer Traditionszeitung« – wie die Autoren Burghard Ciesla und Dirk Külow versichern – in die Messestadt gekommen. Und Bisky betonte frank und frei auf eine Frage des Moderators des Diskussionsabends in Lehmanns Buchhandlung: »Ja, selbstverständlich ist ND mein Herzblatt!« Gewiss, die herzliche Verbundenheit des Medienwissenschaftlers mit diesem Blatt war nicht von Anfang an gegeben. »ND hat eine schwierige Geschichte, jetzt ist es handelnder Akteur der Linken«, sagte Bisky und zollte seinen Respekt vor den Leistungen der Journalisten, die das einstige Organ der SED nach der Wende zu einer lesbaren, spannenden Zeitung gestalteten, sie über die Unwirtlichkeiten des Vereinigungsprozesses am Leben hielten, sich in der gesamtdeutschen Medienlandschaft durchzusetzen und zu behaupten verstanden. »Das ist nur ihnen zu verdanken, keiner Partei.«

Derjenige, der einen maßgeblichen Anteil daran hatte, dass sich ND erfolgreich den Enteignungsabsichten der Treuhand widersetzte und nicht mundtot machen ließ, war ebenfalls anwesend: der Nach-Wende-Chefredakteur und spätere Geschäftsführer Wolfgang Spickermann. Er verblüffte die Zuhörer mit der Bemerkung: »Als ich 1971 von der Humboldt-Universität ins ND kam, hatte ich den Eindruck, in eine Redaktion unermesslicher geistiger Freiheit gelangt zu sein. Viele kluge Menschen arbeiteten hier, es herrschte ein offener Ton, wir konnten alles diskutieren.« Der studierte Physiker und schließlich Leiter der Abteilung Wissenschaft ließ wissen, dass ND wie auch die DDR eben gute und schlechte Zeiten kannten. »Mal waren die Spielräume groß, mal gleich null. In den 80er Jahren nahmen allerdings Restriktionen, Bevormundung und Zensur stark zu.« Spickermann gab indes zu bedenken: »Auch Journalisten in den Westmedien können nicht schreiben, was sie möchten, wenn es dem Herausgeber oder Chefredakteur nicht passt.« So erklärt sich vermutlich auch das Phänomen, dass viele Journalisten – systemunabhängig – Zyniker werden.

Den Don Quichotte zu spielen, war jedenfalls Spickermanns Sache nicht, wie man erfahren konnte. Er hat sich über vieles im alten ND geärgert, beispielsweise über die Berichterstattung nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl 1987. Und da hat er auch mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg gehalten. Ansonsten waren er und seine Kollegen von der Wissenschaft freilich in einer glücklicheren Lage als etwa die in den Abteilungen Parteileben oder Außenpolitik Arbeitenden. Unglücklich war er allerdings im April 1989, fiel ihm doch die Aufgabe zu, die hunderte Leserbriefe zu beantworten, die ND erreichten, als die Sowjetakademikerin Nina Andrejewa auch in den Spalten dieses Blattes kundgetan hatte, warum sie ihre Prinzipien nicht preisgeben könne. Dieser Nachdruck fiel in die Sparte Geisteswissenschaften, obwohl die Abteilung Wissenschaften mit dem aus dem »Großen Haus« am Werderschen Markt kurz vor Redaktionsschluss ins Haus am Franz-Mehring-Platz »geflatterten« Pamphlet nur arbeitstechnisch zu tun hatten: dieses ohne Widerspruch satzfertig zu machen.

Das ND war Organ der Macht und wurde dementsprechend von der Partei behandelt, wie Bisky, heute Herausgeber der Zeitung, erklärte. Das Verlautbarungsorgan ist von Westjournalisten aufmerksam studiert worden, erinnerte sich Peter Pragal, Korrespondent der »Süddeutschen Zeitung«. Auch wenn es die Wirklichkeit nicht widergespiegelt, sondern die Welt schöngeredet habe, wie die Parteiführung es wollte – zwischen den Zeilen habe man einiges erfahren. Bernd Lindner hingegen hat es genervt, wenn im ND über etwas berichtet oder kommentiert wurde, was man als DDR-Bürger eigentlich gar nicht wissen konnte oder nicht wissen durfte: »Da fühlte ich mich jedes Mal veräppelt.« Der heute im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig tätige Professor kam dann noch auf den unseligen »Reue«-Verriss im ND zu sprechen. Für Spickermann Gelegenheit einzuhaken: Der Autor der ND-Kritik habe nicht aus eigenem Antrieb gehandelt, sei von Erich Honecker persönlich beauftragt worden, nachdem in der »Jungen Welt« eine Rezension erschienen war – im Auftrage von Egon Krenz. Dies deutet Spickermann heute als ein Kräftemessen zwischen dem Generalsekretär und dem schon in den Startlöchern wartenden Nachfolger. Bisky wiederum erinnerte sich, das Drehbuch des in der DDR inkriminierten Films »Die Reue« an seiner Babelsberger Hochschule nachgedruckt zu haben.

Kurz vor Schluss der Veranstaltung bekundete Lindner, dass in einer »pluralistischen Medienlandschaft, wie wir sie in der Bundesrepublik haben, ND seinen Platz hat«. Dies fand selbstverständlich Biskys Zustimmung. Aber er wird wohl nicht Lindners Einladung folgen, die derzeitige »aufschlussreiche« Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zu besuchen, in der ND- und BILD-Schlagzeilen aus verschiedenen Jahren nebeneinander abgelichtet sind. Bisky: »ND und BILD sind nicht zu vergleichen.« Seite 22

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