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  • 7. ND-Lesergeschichten-Wettbewerb

In einer mexikanischen Kneipe sah ich die Berliner Mauer fallen

  • Dr. Benedikt Behrens, 22049 Hamburg
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Ruinen der Azteken-Stätte Teotihuacán
Die Ruinen der Azteken-Stätte Teotihuacán

Ab dem Wintersemester 1988/89 studierte ich in Hamburg Geschichte mit dem Schwerpunkt Lateinamerika. Von der DDR kannte ich aus direkter Anschauung nur das Wenige, was ich durch zwei jeweils eintägige Besuche in Ostberlin in den 70er und 80er Jahren und einem Kurzausflug von meinem ersten Studienort Marburg aus im Sommer 1988 aufzunehmen vermochte. Nach zwei Semestern in Hamburg entschloss ich mich, im Wintersemester 1989/90 an einer Universität in Mexiko zu studieren.

Einige Monate vor meiner Abreise hatte ich im Sommer 1989 die Gelegenheit, Manfred Kossok, den damals in der DDR führenden Lateinamerikahistoriker und vergleichenden Revolutionsforscher von der Universität Leipzig, in Hamburg aus Anlass des zweihundertjährigen Gedenkens der Französischen Revolution zu hören. Ich war sehr von dem Vorgetragenen und von seiner Wissenschaftlerpersönlichkeit beeindruckt. Niemand hat damals ahnen können, dass die Republik, in der er seinen Beruf so brillant ausübte, sehr bald Geschichte sein und ihm sein geschätzter Arbeitsplatz genommen werden würde.

Ende September 1989 ging ich zum Studium in ein mir völlig fremdes Land, und das in einem Moment, als es in Osteuropa schon vernehmlich zu brodeln begann. In den ersten Wochen meines Mexiko-Aufenthalts hatte ich zunächst alle Hände voll zu tun, um mich in der unüberschaubaren, quirligen und chaotischen Hauptstadt und der riesigen Universität (300 000 Studenten) zurechtzufinden und eine Unterkunft in relativer Nähe zu ergattern. Kaum war das bewerkstelligt, drangen die sensationellen Nachrichten aus einem aus mexikanischer Sicht winzigen exotischen Land im Herzen Europas sogar bis in die Spalten der dortigen Presse und in die Nachrichtensendungen der elektronischen Medien vor: Erich Honecker war zurückgetreten. Unglaublich! Hatte es etwa eine Art (Palast)Revolution gegeben?

In den darauf folgenden Wochen kamen keine anderen sensationsträchtigen Neuigkeiten aus der DDR mehr bis nach Mexiko durch, und ich konnte mich wieder ganz auf mein Gaststudium und das Kennenlernen dieses faszinierenden Landes konzentrieren. Am 10. November unternahm ich einen Ausflug zu den berühmten Ruinen von Teotihuacán. Ich bestaunte die schon von den Azteken »Stadt der Toten« genannte riesige Ruinenanlage. Müde von dieser eindrucksvollen Besichtigung setzte ich mich am Abend in ein kleines Restaurant, um mich ein wenig von den Anstrengungen zu erholen. Auf einem Fernsehschirm flimmerte eine Nachrichtensendungen, die ich zunächst, schon wegen meiner Erschöpfung, nur beiläufig verfolgte. Plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitzschlag: Die Bilder wechselten und zu sehen war die Atmosphäre eines grauen, herbstlichen Landes und Menschenmassen, die in der Dunkelheit offenbar eine Grenze passierten – auf dem unteren Bildrand erschien die Inschrift: BERLÍN. Ziemlich schnell begriff ich, trotz meiner noch geringen Spanischkenntnisse, was diese irreal anmutende Szenerie zu bedeuten hatte: Das »Wahrzeichen« des Kalten Krieges und der Spaltung Europas war gefallen!

Während der mir noch verbleibenden knapp fünf Monate wurde ich noch unzählige Male von Einheimischen gefragt, was ich von der »caída del muro«, also dem Mauerfall, halte mit der unausgesprochenen Erwartung, dass sich in meinem Gesicht sofort Begeisterung widerspiegelt. Anfänglich herrschte tatsächlich die Freude bei mir vor, malte ich mir doch schon die mir nun offenstehende Möglichkeit aus, die DDR endlich näher kennenzulernen und vor allem mein Studium möglichst in Leipzig bei Professor Kossok fortsetzen zu können oder zumindest später zu versuchen, von ihm als Doktorand angenommen zu werden. Doch noch in Mexiko wurde mir bald klar, dass dieser Traum nur schwer zu realisieren sein würde, da die BRD bereits handstreichartig damit begonnen hatte, ihr System, einschließlich des universitären, der DDR überzustülpen und nahezu alle ihre Strukturen zu beseitigen.

Wie so viele andere Geistes- und Sozialwissenschaftler der DDR wurde auch Manfred Kossok, trotz der Anerkennung, die er international (auch im Westen) genoss, Opfer der »Abwicklung« der akademischen Szene. 1992 »entdeckte« man seine Systemnähe, weil er Ende der 60er Jahre für kurze Zeit eine Leitungsposition an seiner Universität bekleidete, und entließ ihn aus dem aktiven Dienst, ungeachtet internationaler Proteste, angeführt von einem der bedeutendsten zeitgenössischen Mexikohistoriker, Prof. Friedrich Katz, der Jahrzehnte zuvor mit ihm in der DDR geforscht hatte und seit Anfang der 70er Jahre in den USA als Experte seines Faches zu Ruhm gekommen war. Ein halbes Jahr nach seiner Entlassung starb Manfred Kossok mit nur 62 Jahren, den ich im Gegensatz zu Friedrich Katz leider nicht mehr persönlich kennenlernen durfte.
So hatten also die eigentlich positiven Ereignisse des Mauerfalls und des Endes der Blockkonfrontation nicht nur für mich einen bitteren Beigeschmack.

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