Glück wie Treibholz

»Das Leben ist schön« – eindringliche Geschichten aus Wyoming von Annie Proulx

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Cheyenne und Laramie, Bighorn Mountains, Rocky Mountains, Yellowstone National Park – der große, menschenleere 44. US-Bundesstaat, fast zweieinhalb mal so groß wie die DDR, aber nicht mehr Einwohner als Leipzig, ist reich an Namen des Wilden Westens. Seit knapp anderthalb Jahrzehnten ist er Wohnsitz und Schreibplatz der Spätschriftstellerin Annie Proulx. Ihre Vorfahren waren französische Einwanderer (ihr Name spricht sich »Pru»). 1935 sie in Connecticut an der Ostküste geboren, wandte sich die in Geschichte graduierte langjährige Journalistin und Sachbuchautorin erst jenseits der 50 der Belletristik zu.

Bei einer Lesung in der Akademie der Künste vorigen Frühjahr sagte die Frau mit den kurzen grauen Haaren, sie habe deshalb so spät zu schreiben begonnen, weil sie davor – dreimal verheiratet, vier Kinder – einfach nicht genug Zeit und Muße besessen habe. Mit Kurzgeschichten (»Brokeback Mountain«) sowie den Romanen »Schiffsmeldungen«, »Postkarten« und »Das grüne Akkordeon« holte sie fast alle bedeutenden Literaturauszeichnungen und trat erfolgreich als Drehbuchautorin hervor.

Niemals hervorgetreten ist Annie Proulx als Autorin, die den mythosbeladenen Westen Amerikas verklärt und verkitscht. Unter Verweis auf die Romane, die alle in Wyoming entstanden, erklärte sie zwar: »Die weite Sicht, die dort möglich ist, hilft einen klaren Blick zu bewahren, die Hochebenen und schroffen Gipfel entsprechen etwas in mir, einem inneren Verlangen, das lange Zeit von den heimatlichen Wälder Neu-Englands verdeckt war«.

Doch das war kein Hinweis auf sentimentales Abgleiten. Proulxs Blick ist nüchtern bis zur Grausamkeit, und so schildert sie ihre neue Heimat: Die fantastische Schönheit des Rechteck-Staates spielt in den Short Stories aus Wyoming eine tragende Rolle, ihre Landschafts-Sprachmalerei macht sie zu einer der stilistisch knappsten und elegantesten heutigen Schriftsteller. Aber Landschaft, Menschen und Gesellschaft sind bei ihr durchweg Schauplatz harter Auseinandersetzungen und Dramen, harter Schicksale und harter Ironie. Zeigt sich in ihren Geschichten einmal ein Zipfel Garten Eden, dann mag diesen Moment genießen, wer will – dauerhaft wird er nicht sein. Glück ist in Proulxs Büchern ein Treibholz, das sich nirgendwo und von niemandem länger festhalten lässt.

In »Hier hat's mir schon immer gefallen«, dem dritten Band mit Erzählungen aus Wyoming (nach den auf deutsch erschienenen beiden ersten »Weit draußen« und »Hinterland«), ist das nicht anders. Sieben der neun Kurzgeschichten spielen in Wyoming, die beiden anderen satirisch verfremdet in der Hölle. Man könnte streiten, wo es teuflischer zugeht. Im Vorsatz zu einer der eindrucksvollsten und erschreckendsten Erzählungen (»Diese alten Cowboylieder«) über das junge Ehepaar Archie und Rose, das sich 1885 eine Existenz aufbauen will, heißt es widmungsgleich für Regionen und Epochen: »Es gibt die Überlieferung, dass Pioniere in das Land kamen, sich niederließen, ein hartes Leben führten, ihre Brut kärglich aufzogen und Rancherdynastien begründeten. Manche taten das. Aber die große Mehrzahl hatte keine Chance und war bald vergessen.»

Annie Proulx berichtet von einem früheren Pferdefänger im Heim. Dessen Enkelin will Heldenhaftes aus seiner Jugend per Tonband festhalten und wird gewahr, dass der Großvater ein reichlich verkorkstes Leben mit vier Familien gleichzeitig hinter sich hat, deren Kindern er praktischerweise die gleichen Namen gegeben hatte, »damit er sich nicht vertun konnte und nicht auf einmal Fred statt Ray sagte«. Sie erzählt von einem wundersamen, bald unheimlichen Beifußstrauch, der zum Ein und Alles einer einsamen Frau und zum Verhängnis vieler Passanten wird.

Und in der düstersten Geschichte (»Bis zum Hals in der Patsche«) verfolgt sie die junge Dakotah Lister, die von ihrer Mutter verlassen, von lieblosen Großeltern aufgezogen, vom Irakkrieg verstümmelt zu ihrem tödlich verunglückten Kind in den Westen zurückkehrt: »Dakotah fiel auf, dass jede Ranch, an der sie vorbeikam, einen Sohn verloren hatte, früher oder später, lächelnde Jungen, selbstsicher, gesund, aus dem Lebensstrom geworfen durch Schnaps und Geschwindigkeit, Rodeounfälle, schlechte Pferde, tiefe Bewässerungsgräben, hohe Gerüste, Traktoren, die sich überschlugen, oder ungesicherte Autotüren. Darunter ihr Sohn. Das war die Dunkelheit, die darauf wartete, Rancherjungen zu verschlingen, das gefährliche Heranwachsen, das ihre Privilegien auslöschte. Die Fahrt auf dieser Straße war ein Appell der Trauer.«

Die Menschen, die Proulx zeichnet, sind Typen, vielfach verschroben und kauzig, meistens wortkarg und hartnäckig, fast immer geborene Verlierer. Proulxs Ironie, die auch das härteste Schicksal auflockert, ist grandios, so wie die nunmehr dritte Sammlung Kurzgeschichten aus Wyoming Wunsch und Verlangen nach einem neuen großen Roman wie das »Das grüne Akkordeon« weiter vergrößern. Denn so reich der Westen an Stoff für herrliche Erzählungen ist, Annie Proulx wird hoffentlich, hoffentlich bald, auch wieder einen Roman vorlegen können, in dem es um mehr geht als volle Versager im leeren Wyoming.

Annie Proulx: Hier hat's mir schon immer gefallen. Geschichten aus Wyoming 3. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. Luchterhand. 254 S., geb., 17,95 EUR.

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