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»ich schlag mich durchs gestrüpp«

Nach Leipzigs Buchmesse: Notizen zu 1989 und den Folgen, und warum Erinnerung gut tun kann, wenn sie weh tut

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Irgendwann fing ich zu zählen an. Und kam in vier Hallen auf insgesamt zweiundzwanzig Treffer. Es war die immer gleiche Kennmarke auf Plakaten und anderen Ankündigungen: »Zwanzig Jahre Mauerfall.« Etwas unglückliche Formulierung, ungenau und doch sehr genau: So lange dauert das also, und kein Ende absehbar.

Ob Eröffnungsreden der Leipziger Buchmesse, Erzählwerke von Lewitscharoff, Schoch, Jirgel, Loest oder Gesprächsrunden mit Schorlemmer, Sodann, Schwan, Clement, Pragal, Bisky, Biermann, Münkler, Führer, Monika Zimmermann oder Ingo Schulze (um nur einige Namen zu nennen) – letztlich lag der Messe-Schwerpunkt in literarisch und öffentlich vielgestaltigem Diskutieren übers Verhältnis von Katastrophe und glücklichem Gelingen in modernen geschichtlichen Bewegungen.

Jens Reich hatte in seiner Laudatio auf den Träger des Buchpreises zur Europäischen Verständigung, Karl Schlögel (»Terror und Traum«), gesagt: »Der Stalinsche Terror gehörte gerade auch für uns Menschen, die in der DDR lebten, zur Vorgeschichte unseres Daseins in der zweiten Hälfte dieses schmählichen 20. Jahrhunderts.« Und den Redner bedrängt »Mitgefühl mit dem Schicksal von Menschen, das auch mein eigenes hätte werden können, wäre ich nur an anderen Orten in andere Umstände geraten.« Da ist dieses inständige, tiefenzielende und tiefengenährte Ost-Fühlen, das man sich (neue Überheblichkeit?) im Westen, also auf der Frankfurter Buchmesse etwa, nicht so ohne Weiteres vorstellen will, und es hat wohl mit der – ich sage jetzt: uns – aufgezwungenen Not zu tun, uns in bestürzend energischer Weise mit eigener Geschichte zu befassen.

Leipzigs zahlreiche Diskussionen und Lesungen rund um dieses Jubiläumsjahr nach 1989 offenbarten so auch dies: Mentale Unverträglichkeiten beim Erleben der inneren Einheit werden öffentlich meist widergespiegelt, als handle es sich vorwiegend um eine lästig langlebige Spannung zwischen Ost und West. Das verdrängt einen Konflikt, der nach wie vor ein rein ostdeutscher ist, und den man in Leipziger Debatten deutlich empfinden konnte. Es ist der Konflikt der Ostdeutschen mit Ostdeutschen, er teilt die Neuerscheinungen dieses Jahres, und was das extrem Trennende ist, erhellt sich allein schon an zwei markanten Publikationen: den »Gefängnis-Notizen« von Egon Krenz und »Wir haben fast alles falsch gemacht« von Günter Schabowski (Gespräche mit Frank Sieren).

Besagter Konflikt kreist um die Frage, was die DDR war, und dieser Konflikt will und will sich nicht beilegen, er hat noch zu viel Kraft. Die Teilung des Ostens ist eine längst nicht begradigte Front, gebildet aus lauter Ungleichen – Opfern und Tätern, kritischen Erinnerern und ideologisierten Verklärern, wohlbedacht Früheren und unbedenklich Künftigen oder denkfaul Früheren und klar planend Künftigen, schwermütig Unbeweglichen und leichtfüßig Flexiblen, Alten und Jungen. Ja, Teilung in Gewinner und Verlierer. Und die Waagschalen, das eine wie das andere öffentlich auszustellen, kommen nicht zur Ruhe. Ost- und Westdeutsche gerieten nach 1989 fremd, staunend, misstrauisch aneinander – im Moment ihrer geschichtlich unerwarteten Begegnung; die dabei entstandene Irritation könnte bald vorbeigehen. Die Ostdeutschen aber geraten weiter aneinander durch Trennung – die sich jetzt erst offen ausleben darf. Das dauert. Nicht vergessen werden darf nämlich: Die Gegner des stalinistischen Systems, die Unterdrückten dieser rigiden Erziehung zum linearen gesellschaftlichen Wesen, diese verzweifelt Andersveranlagten, denen die oberflächliche Begeisterung für die DDR nicht gelingen wollte, sie dürfen erst seit 1990 ihre Bitterkeit, ihren Hass, ihre Sprachlosigkeit endlich laut, beständig, rücksichtslos artikulieren, sie haben erst jetzt gegenüber Ex-Funktionären, Mitgehern und Mitläufern die nachträgliche Chance eines (aber nun immerhin möglichen) aufbrausenden Berührens – das will ausgekostet sein.

Die Statthalter des untergegangenen Systems aber – sie sind zu spätem Hinhören gezwungen, zur Ohnmacht, der keine Mittel mehr zuwachsen, um kräftig dazwischenzufahren, barsch abzuschneiden, fies weiterzumelden, feist abzulehnen, grinsend zu verbieten, hochnäsig zu zensieren. Das muss ausgehalten werden. Eine jahrzehntelang verschwiegene Subjektivität, der so viel Unabgegoltenes auf der verbotenen Zunge lag, sie will und hat seit 1990 Öffentlichkeit und feiert dieses Fest. Noch immer. Dies Fest bleibt freilich Konfrontation, und am Osten profiliert sich auch manche Gier nach gültiger Definition, wie gelebt hätte werden müssen; man ist empört, wie andere verbreiten, gelebt zu haben. Man kommt nicht ohne Polemik aus, man verzweifelt an der Unfähigkeit, mit dem eigenen Bilde vom verblichenen Regime zu einer Deutung zu gelangen, die auch von anderen akzeptiert wird.

Wer aber noch immer den Kopf darüber schüttelt, wie denn der umsorgte DDR-Bürger billige Wohnungen, verlässliche Arbeit und geruhsame Tristesse gegen den rigiden Wind der Freiheit tauschen konnte, der lese den Dichter Wolfgang Hilbig; sein Gedicht hing groß zwischen zwei Messehallen: »ihr habt mir geld aufgespart/ lieber stehle ich.// ihr habt mir einen weg gebahnt/ ich schlag mich durchs gestrüpp seitlich des wegs.// sagtet ihr man soll allein gehen/ würd ich gehn/ mit euch.«

Leipzigs Messe zu bilanzieren, ist keine Sache von Zahlen, Fakten, Flanierberichten, Blicken in die tausend Tüten der Besucher. Weil Leipzig ein Fest des Lesens ist, muss nach Geist gefragt werden, nach der Anregung, und sie war da – als Kraft der geschichtlichen Erinnerung, und die Frage nach dem Sozialismus, nach Terror und Traum also, ließ auch die Frage aufkommen nach der heutigen Welt zwischen Winnenden und Weltkrise, freien Aufschwüngen und medialen Abstürzen in jenes drohend Totalitäre, das den Menschen neuerlich verschlingt.

An Büchern hilft nur, was dich aufreißt bis zu einem Grund, der den billigen Halt verweigert. Lesen ist Hoffnung auf Anfechtung, und zwar durch den – in jeder Lage so nötigen! – Hochmut. Hochmut, der einem die Gefahr zuflüstert, in jedem Moment unter falsche Leute geraten zu können. Und unter falsche Leute gerät man immer, wenn man sich selber, vor lauter Freude am Wir, nicht mehr wirklich vermisst.

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