In tiefer Sorge

  • Mathias Wedel
  • Lesedauer: 3 Min.
Flattersatz: In tiefer Sorge

Unser Anzeigenblättchen bringt jede Woche das Foto einer »schönen Brandenburgerin«. Unter denen wird kurz vor Silvester die Schönste ausgewählt. Tolle Weiber sind dabei, mein lieber Mann! Die Elfriede Giesecke, im Dorf »Stützstrumpf-Frieda« genannt, hat sich auch schon veröffentlichen lassen. Alle haben zwar gelacht, aber immerhin hat sich ein wohlhabender Witwer (20 Hühner!) aus dem Nachbardorf bei ihr gemeldet und die beiden schlendern jetzt händchenhaltend die Pawel-Kortschagin-Straße runter.

Es geht also – mit den Mitteln der Presse, sagte schon Lenin, kann man viel erreichen. Wir müssen handeln, der Notstand ist groß. Bald sollen wir den 20. Jahrestag der Befreiung vom Kommunismus durch die ruhmreichen westdeutschen Aufbauhelfer feiern und kein Aas will mitmachen. Vor allem fehlt es an echten Opfern der Diktatur. Es gibt zwar ein paar Scheidungsopfer im Dorf, zwei Insolvenzopfer, ein Opfer von Internet-Abzocke und ein Opfer einer Fischvergiftung. Aber keiner will dem Stasiterror zum Opfer gefallen sein. Unser Walter Sawatzki ist der einzige, der im DDR-Knast saß. 1992 hatten wir ihm deshalb einen Ehrensitz im Gemeinderat angetragen und der Fliederweg sollte in Walter-Sawatzki-Promenade umbenannt werden. Da kam raus, dass man ihn weggesteckt hatte, weil er seine Frau eine Woche lang im Schuppen festgebunden hatte und nackt vor ihr auf diversen Gartengeräten geritten war.

Wenn der Opfernotstand anhält, dann kriegen wir nie den Wanderwimpel »Beste Gemeinde bei der Aufarbeitung der DDR-Diktatur«. Den hat seit Jahren das Nest jenseits der Autobahn, weil der Schuldirektor dort alle Wandertage in Knabes Stasiknast verlegt hat und die Kinder motiviert, klassenweise bei Frau Birthler nachzufragen, ob ihre Eltern IM waren.

Ich machte deshalb im Gemeinderat den Vorschlag, wir könnten doch im Anzeigenblättchen jede Woche ein Foto »Trauriges Opfer« bringen und am Ende des Jahres kriegt der, der am traurigsten guckte, ein Präsentkorb mit Mecklenburger Klarem und anderen Leckereien drin.

Mein Vorschlag fiel durch. Und Nachbarn, die ich bat, sich als Opfer zur Verfügung zu stellen, brüllten mich an: »Ich war 1998 schon mal Wahlhelfer – das reicht« oder machten gleich den Hund los.

Das Dumme ist, neuerdings werden alle Opfer noch einmal gegauckt und gebirthlert, bis die Knochen knacken. Vor allem in Brandenburg. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass viele Opfer auch, sozusagen im Zweitjob, ein kleines bisschen als Täter tätig waren, und Schönbohm hat die Parole ausgegeben »Wir kriegen euch alle!« Einige Leute in der Kreisstadt haben deshalb bereits ihr Opfer-Ehrenamt zurückgegeben. Das führt z.B. dazu, dass im Bärbel-Bohley-Saal der Heilig-Geist-Gemeinde niemand mehr die Blattpflanzen gießt und bei Morgenappellen zum Schuljahresbeginn kein lebendes Opfer mehr begrüßt werden kann, es sei denn, man holt eins aus Berlin. Wenn sich nicht der Kindervergewaltiger Frank Schmökel aus Strausberg durchgerungen hätte, einen Antrag auf Opferrente zu stellen, hätten wir in Brandenburg bald gar kein Opfer mehr, dessen Gesicht man auch aus dem Fernsehen kennt. Schmökel kann allerdings nicht zu den Kindern in den Schulen gehen, weil er unabkömmlich ist.

Trotz dieser Schwierigkeiten lassen wir uns bei der Vorbereitung der Siegesfeierlichkeiten nicht irre machen. Wir wollen beispielsweise einen Motivwagen vorbereiten, der von einem Trecker gezogen und auf dem der letzte SED-Bürgermeister am symbolischen Marterpfahl mit viel Spaß ausgepeitscht wird. Das war der Jochen V. Der ist heute Autohändler, größter Arbeitgeber im Ort und weiß noch nichts von unserer lustigen Idee.

Auf jeden Fall wollen wir am Buswartehäuschen eine kleine symbolische Mauer aufbauen. Die einen wollen sie am 9. November mit viel Getöse einreißen. Andere wollen sie stehen lassen – als Ersatz für den Dorfkonsum, als Ort dörflicher Kommunikation, wo man sich morgens zur Schwarzarbeit verabreden kann.

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