Flüchtlingsrat verzichtet auf Denkzettel

Zu viele Adressaten für den Negativpreis / Report beschreibt und kritisiert die Residenzpflicht

Wenn der Flüchtling den Landkreis verlassen will, in dem er lebt, benötigt er eine Erlaubnis von der Ausländerbehörde. Die gibt – wenn überhaupt – nur einen »Urlaubsschein« für einen Tag. Den Tag verbringt der Flüchtling dann mehr im Zug als dort, wo er hin möchte. Darum fährt der Mann immer wieder auch ohne Erlaubnis, wird von der Polizei erwischt, muss Bußgeld zahlen. Wer sich als Flüchtling in Deutschland nicht an die sogenannte Residenzpflicht hält, dem drohen bis zu 2500 Euro Geldstrafe oder sogar bis zu einem Jahr Haft.

Der Flüchtlingsrat Brandenburg und die Humanistische Union sind damit nicht einverstanden. Sie gaben einen Report von Beate Selders zu dem Thema heraus. Die Berliner Journalistin präsentierte die 144-seitige Broschüre »Keine Bewegung!« am Freitag im Potsdamer Alten Rathaus.

»Es ist einfach nicht fair, was hier passiert«, beschwerte sich der schon genannte schwarze Flüchtling bei diesem Anlass. Er wurde in Pasewalk kontrolliert, in Stralsund, in Rostock und Angermünde. Immer, wenn Polizisten seinen Ausweis sehen wollen, fragt er erst einmal, was er denn falsch gemacht habe. Es besteht kein Zweifel: Der einzige Verdachtsmoment ist seine Hautfarbe.

»Das ist rassistisch«, meint Andrea Würdinger vom Republikanischen AnwältInnenverein. Die Residenzpflicht sei dem Wortlaut nach gerade noch verfassungskonform, erklärte sie. Doch die Verwaltung lege das Gesetz zu eng aus. Weil es so sei, müsse die Residenzpflicht abgeschafft werden. Die Pflicht sei keine isolierte Regel. Sie gehöre zu einem Bündel von Maßnahmen, »damit sich die Flüchtlinge hier nicht wohlfühlen«. Das eigentliche Ziel seien Abschreckung, Erpressung und Nötigung. Die Betroffenen sollen lieber zurückkehren in die Staaten, aus denen sie geflüchtet sind, weil es ihnen da schlecht ging. Würdinger weiß, dass etliche Heimleitungen umgehend die Polizei informieren, wenn ein Bewohner 24 Stunden lang abwesend ist. Dabei sei es legal, außerhalb der Sammelunterkunft zu übernachten, wenn man nur nicht den Landkreis verlässt.

Die Journalistin Selders adoptierte im Jahr 2000 eine Waise aus Äthiopien. Doch als sie die 15-jährige Tochter den Großeltern im Rheinland vorstellen wollte, verweigerte die Berliner Ausländerbehörde die Reise. Inzwischen benehme sich Berlin sehr liberal, betonte Selders. Der Urlaubsschein werde dort nur noch in Ausnahmefällen verweigert. Andere Bundesländer stellen sich weiterhin stur, elf Bundesländer verlangen dazu noch eine Gebühr von zehn Euro. Dabei erhalten Flüchtlinge nur 184 Euro im Monat – die Hälfte des Hartz IV-Satzes – und davon zumeist nur 40 Euro in bar. In ihrem Report konzentriert sich die Journalistin auf Brandenburg. Sie erzählt aber auch Beispiele aus anderen Ländern. So schildert sie die Situation in einem Asylbewerberheim im Schwarzwald. Für die Bewohner hört die Welt 60 Meter hinter dem Heim auf, weil da der Enzkreis endet. In seiner Heimat Sachsen würde er sich unweigerlich strafbar machen, wenn er in der Situation der Flüchtlinge wäre, vermutet Sven Lüders. Der Geschäftsführer der Humanistischen Union erinnert daran, dass es in Sachsen seit 1990 drei Gebietsreformen gab. Er wüsste gar nicht, wo die Kreisgrenzen verlaufen.

Der Flüchtlingsrat Brandenburg verzichtet in diesem Jahr darauf, einer Behörde einen Denkzettel für rassistisches Verhalten zu verpassen. Der Negativpreis werde nicht vergeben wegen der Vielzahl der möglichen Adressaten, hieß es.

Das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben gegen die Residenzpflicht nichts einzuwenden. Darum müsse auf politischen Widerstand und Aufklärung gesetzt werden, finden die Gegner der Residenzpflicht, zu denen auch die Linkspartei gehört.

  • Am 31. Dezember lebten in Deutschland 33 295 Asylbewerber und 104 945 geduldete Flüchtlinge.
  • Die Residenzpflicht gilt in der BRD seit 1982. Eine so rigide Regelung hat kein anderer EU-Staat.
  • Die Broschüre »Keine Bewegung!« kann für 5 Euro plus Porto beim Flüchtlingsrat Brandenburg bestellt werden (Rudolf-Breitscheid-Str. 164, 14482 Potsdam).
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