nd-aktuell.de / 23.03.2009 / Kultur / Seite 12

Unsere Kindersoldaten

Amok: die Explosion eines Gemischs

Wolfgang Schmidbauer

Sie sind mitten unter uns, unsere Kindersoldaten. Vorzugeben, es sei jede dieser narzisstischen Explosionen wie in Winnenden unvorhersehbar und die große Ausnahme, das ist so klug, wie zu behaupten, jeder wisse doch, dass Schwefel, Kohle und Salpeter für sich genommen ganz harmlos sind; also sei die Explosion eines Gemischs aus diesen Stoffen auch nicht vorauszusehen.

Ohne Schusswaffen gibt es keine Kindersoldaten. Kriegsberichterstatter fürchten nichts mehr als die Begegnung mit halben Kindern, die in den Krisengebieten Afrikas und Asiens mit Kalaschnikows auf Streife gehen. Denn Kindersoldaten erschießen einen Fremden auch schon mal aus Langeweile oder weil sie es komisch finden, wie er umfällt. Die Schusswaffen entsprechen der Kohle in dem explosiven Gemisch. Durch Schusswaffen ist es spielerisch möglich, einen Menschen abzuknallen, der stärker und gewandter ist.

Der moderne Amoklauf hängt nicht an der Schusswaffe, sondern an der Automatik, dem Mehrlader. Wer – wie das Jahrhunderte lang für alle Schützen selbstverständlich war – nach jedem Schuss laden muss, der kann nach dem ersten Schuss in eine Gruppe hinein überwältigt werden. Wenn er eine oder gar mehrere automatische Waffen hat, kann ein Sechzehnjähriger ein ganzes Dorf in Angst und Schrecken setzen – oder eine ganze Schule.

Selbstverständlich sind die meisten Träger der dreißig Millionen Schusswaffen in Deutschland absolut zuverlässig und achten peinlich darauf, dass selbst bei einer ungeladenen Waffe der Lauf niemals auf einen Menschen zeigt. Ehrensache unter Jägern und Schützen! Kohle allein brennt still vor sich hin, wenn ein Funke zündet.

Der Schwefel sind die Ego-Shooter-Spiele. Wer über Jahre hin täglich mehrere Stunden übt, immer perfekter die Monster abzuknallen, die aus allen Ecken kriechen, der verliert die Hemmung, eine Waffe auf Menschen zu richten.

Selbstverständlich sind die meisten Ego-Shooter-Spieler in Deutschland harmlose Personen, die nur ein wenig Spaß haben wollen und ihre Koordination am Joystick verbessern. Sie würden nie und nimmer mit einer realen Waffe auf reale Menschen schießen.

Schwefel allein brennt völlig harmlos mit blauer Flamme und reinigt die Luft von schlechten Gerüchen.

Der Salpeter und damit der wichtigste Bestandteil des explosiven Narzissmus unserer Kindersoldaten ist die immense Zunahme von Störungen der Kränkungsverarbeitung. Wir müssen uns nur klar machen, was eine Welt, in der die Freizeit vor allem durch Zapping und Handy gestaltet wird, mit der kindlichen Psyche macht, wenn wir sie mit einer noch gar nicht so lange zurückliegenden Welt vergleichen, in der körperliche Aktivität – oft körperliche Arbeit – die Freizeit bestimmte.

Unsere Kinder leben in einer Umgebung, in der es selbstverständlich ist, dass durch Knopfdruck das Unangenehme verschwindet und das Angenehme herbeigerufen wird. Natürlich funktioniert das nur begrenzt und oft gar nicht – das heißt nicht, dass es leicht sei, den entsprechenden Anspruch auch aufzugeben.

Parallel zum Siegeszug der optischen Medien lebt jeder junge Mensch in einem ständigen, gnadenlosen Vergleichsdruck. Die Jungs und Mädels in den Soaps sind viel besser drauf und viel schlagfertiger. Der Konkurrenzdruck weckt Gefühle ständiger Niederlagen. Viele Kinder sind chronisch gekränkt. Die meisten ertragen das mit knapper Not. Aber in jeder Klasse gibt es ein paar Tabletten- oder Drogenabhängige, es gibt welche, die unter der Bank ihre Softair-Waffe zeigen, andere, die sich ihr Schönheitsideal erhungern wollen oder im Alter von sechzehn Jahren kosmetische Operationen planen.

Deutschland sucht ständig den Superstar, das Topmodell. Wer nicht mithalten kann, gerät in Gefahr, seine Enttäuschung an denen auszulassen, die noch weniger mithalten können. Beschimpfungen, Entwertungen, Mobbing in jeder Form sind in Schulklassen Teil des Alltagsverhaltens. Wenn Eltern die Intensität dieser Kämpfe mitkriegen, erschrecken sie, beschwichtigen, schauen weg.

Salpeter ist ein harmloses Kalium-Stickstoff-Salz, auch als Kunstdünger verwendbar. Erst wenn er mit Schwefel und Holzkohle (im Verhältnis 75 zu 10 zu 15) vermischt wird, entsteht ein explosives Gemisch. Stellen wir uns also einen chronischen Verlierer vor, der niemals eine der Schönheitskonkurrenzen im Klassenzimmer gewonnen hat; ein leidenschaftlicher Spieler von Counterstrike ist und weiß, wo der Papa seine Beretta oder seine Glock samt Munition aufbewahrt.

Schießpulver ist harmlos, so lange wir es kühl lagern. Wenn wir Wasser draufschütten, wird es unbrauchbar und explodiert nicht mehr. Aber wenn ein Funke drauf fällt, kann seine Zerstörungskraft enorm sein. Viele der chronisch gekränkten, auf ihre erfolgreicheren Kameraden neidischen Jugendlichen, die Gewaltspiele lieben und eine Schusswaffe haben, tun niemandem etwas zuleide. Aber es braucht jetzt nur noch einen Anlass, und die Situation explodiert in den medial vorgeformten Bahnen des Schul-Amoklaufs.

Die Kultusminister können die Schulen mit Waffendetektoren aufrüsten, wie sie auch schon am Eingang von Sankt Peter in Rom stehen. Sie müssen sich freilich fragen, ob der entschlossene Täter vorm Hausmeister zurückweicht, der an einer solchen Schranke steht. Sehr teuer sind solche Maßnahmen obendrein. Das Geld wäre wohl für Schulpsychologen besser ausgegeben, die mit in jeder Notenkonferenz sitzen und aktiv auf gefährdete Schüler zugehen.

Automatische Waffen und Ego-Shooter-Spiele gehören verboten, wenn der Staat wirklich etwas tun will. Ballerlust mit fertigen Patronen hat mit Schießsport so wenig zu tun wie ein Bildschirmspiel mit Bildung. In allen bekannt gewordenen Fällen sind Amoktäter nur deshalb zu Mördern geworden, weil ihnen eine achtlose Umgebung Fernwaffen in die Hand gab. Wo nur der Vorsatz böse ist, die Mittel aber gering, endet der Amoklauf im Kleingedruckten. »Am 27. Oktober 2005 will ein Schüler an einer Privatschule einen Lehrer töten. Zwei Frauen nehmen dem 15-Jährigen das Klappmesser ab.« Oder: »Am 21. Juni 2006 greift ein 20-jähriger Fachoberschüler einen Lehrer mit zwei Messern an. Er wird von Mitschülern überwältigt.«

Den gefährlichsten Einfluss von allen, die Lockung der triggergeilen Bildschirmwelten, stellt heute kaum jemand ernsthaft in Frage. Sie versprechen bequeme Unterhaltung, aber sie bauen darin auch Widerstandskräfte ab, rauben den Kindern Autonomie und schwächen ihre Fähigkeiten zur Kränkungsverarbeitung. Sie sind längst so mächtig geworden, dass sie auch noch die Diskussion über ihre eigene Abschaffung monopolisieren würden, wenn es sie denn gäbe. Über Begrenzungen sollten wir aber dennoch reden.

Dr. Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker, Paartherapeut und Autor in München. Über den explosiven Narzissmus schrieb er »Die Psychologie des Terrors – Warum junge Männer zu Attentätern werden«. Gütersloher Verlagshaus, brosch., 17,95 ¤.