Bis an die Grenze des Kaukasus

  • Peter Strutynski
  • Lesedauer: 4 Min.
Im Ergebnis der deutschen Einigung, der Auflösung des Warschauer Vertrags und der Osterweiterung von NATO wie EU bis an die Grenzen des Kaukasus wurden Mittel- und Südosteuropa zum bevorzugten Investitionsplatz deutscher Konzerne.

Was sich die Bundesregierung von der NATO der Zukunft erwartet, bleibt vorerst im Dunkeln. Die Anmerkungen der Bundeskanzlerin und ihres Verteidigungsministers anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar waren wenig aussagekräftig. Franz Josef Jungs 10-Punkte-Katalog ist ein Musterbeispiel für Politiker-Phraseologie: Die NATO müsse zwar »erneuert« werden, aber »fast alle zentralen Punkte des Konzepts von 1999 sind weiterhin richtig«. Und wie immer geht es um die »Balance« zwischen den Verteidigungsaufgaben nach Art. 5 des NATO-Vertrags und dem »Krisenmanagement und Stabilitätstransfer«, jenen nach dem Ende der Blockkonfrontation vom Nordatlantik-Pakt erfundenen »Nicht-Art.-5-Einsätzen«.

Darunter laufen UN-mandatierte Militärinterventionen à la Afghanistan, Angriffskriege à la Jugoslawien 1999 und der permanente »Krieg gegen den Terror«, den die NATO unter dem Deckmantel des »Bündnisfalles« im September 2001 ausgerufen hat. Das ganze »Spektrum« an »militärischen Fähigkeiten zur Abschreckung« bleibe genauso relevant wie die »flexiblen, verlegbaren und durchhaltefähigen Kräfte«, so Jung. Abrüstung, auch atomare, »partnerschaftliche Beziehungen« zu Nicht-NATO-Mitgliedern und eine »strategische Partnerschaft« mit Russland finden sich in dem wohlfeilen politischen Warenhauskatalog ebenso wie die Harmonisierung und Synchronisierung der »Verteidigungsplanung« von NATO und EU.

Angela Merkel gab im wesentlichen zwei Gedanken zu Protokoll: »Die NATO hat eine wesentliche Erweiterungsrunde hinter sich, aber wir sind noch nicht am Ende«, sagte sie und erinnerte an die im Grundsatz bereits auf dem Bukarester Gipfel 2008 bekundete Absicht, die Ukraine und Georgien in die Allianz aufzunehmen. Russland wurde harsch in die Schranken gewiesen: Es gäbe »kein Recht Dritter«, »darüber zu entscheiden, wer Mitglied der NATO wird und wer nicht«. So hält die deutsche Außenpolitik am Ziel der Einkreisung Russlands fest. Die zweite Überlegung Merkels bezog sich auf den Begriff der »Vernetzten Sicherheit«. Damit ist die enge Verzahnung von militärischer und politischer Strategie, von Krisenbewältigung und -prävention gemeint. Auch dies kein neues Konzept der NATO – nur schwer umzusetzen, wie das Beispiel Afghanistan zeigt.

Von spezifischen »deutschen Interessen« spricht die Bundesregierung natürlich nicht. Das war auch in der Vergangenheit nicht der Fall. Warum auch? Bekam die (alte) Bundesrepublik Deutschland nicht, was seit Gründung 1949 ihr geheimster Wunsch war? Der Beitritt der DDR zur BRD 1990 war doch eine schöne Bestätigung für den beharrlichen Weg, via NATO und EU alte geostrategische Ziele durchzusetzen. Die Destabilisierung Jugoslawiens zu Beginn der 1990er Jahre ging zwar maßgeblich auf die forcierte deutsche Anerkennungspolitik zurück, versteckte sich aber ebenfalls hinter der EU-Firma, so wie der Krieg gegen Jugoslawien von der NATO unter operativer Leitung der USA geführt wurde. Der damalige Kanzler Gerhard Schröder weigerte sich sogar, von einem »Krieg« zu sprechen, als habe sich Deutschland nur an einer humanitären Hilfsaktion beteiligt. Im Ergebnis der deutschen Einigung, der Auflösung des Warschauer Vertrags und der Osterweiterung von NATO wie EU bis an die Grenzen des Kaukasus wurden Mittel- und Südosteuropa zum bevorzugten Investitionsplatz deutscher Konzerne.

Die Erweiterung von EU und NATO sowie das gemeinsame sicherheitspolitische Auftreten beider dienen »automatisch« dem stärksten EU- und zweitstärksten NATO-Mitgliedsland. Um in politökonomischen Kategorien zu argumentieren: Im Großen und Ganzen sind die Verwertungsinteressen des deutschen, französischen, britischen und US-amerikanischen Kapitals identisch. Sie zielen auf die Verfügungsgewalt oder zumindest Kontrolle über die strategisch wichtigen Energieressourcen dieser Welt, auf den freien Zugang zu jedweden Märkten, die staatliche Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben sowie – ganz generell – die Verbilligung der Ware Arbeitskraft. Darin sind sich die Machteliten der EU- und NATO-Staaten weitgehend einig. In frappierender Weise finden sich diese Ziele (bis auf die beiden zuletzt genannten) in allen sicherheitspolitischen Doktrinen der NATO (Rom 1991, Washington 1999), der EU (Solana-Papier 2003) oder der BRD (Verteidigungspolitische Richtlinien 1992 und 2003, Weißbuch 2006) wieder.

Diese Interessenkonvergenz wird dann Risse bekommen, wenn die weiteren Perspektiven des kapitalistischen Weltsystems in den Blick geraten. Die kommende Weltmarktkonkurrenz mit China und einem wieder erstarkten Russland spielt hier ebenso eine Rolle wie der Umgang mit der Dritten Welt. Der politische Wechsel in den USA mag zunächst eher die Gemeinsamkeit des »Westens« markieren. Das Bekenntnis zur Multipolarität wird über kurz oder lang aber auch divergierende Interessen zu Tage fördern. Das wird weniger die EU, wohl aber das Verhältnis der EU-Staaten zu den USA betreffen. Die NATO, die zumindest indirekt das sowjetische Imperium niedergerungen hat, könnte dereinst an den eigenen Widersprüchen scheitern. Der Welt kann einiges erspart bleiben, wenn dieser Prozess politisch beschleunigt würde.

Dr. Peter Strutynski ist Politikwissenschaftler an der Uni Kassel (AG Friedensforschung) und Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.

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