Der Markt und die Gesellschaft

Das doppelte Deutschland (3) – Zwischen Divergenz und Konvergenz. Die Wirtschaftssysteme BRD und DDR

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 6 Min.
Vor 60 Jahren wurden die Bundesrepublik Deutschland sowie die Deutsche Demokratische Republik gegründet. ND offiert zu dem Doppeljubiläum eine Artikelserie, die jeweils zu Monatsende an dieser Stelle zu lesen ist.
Die Freien Läden – ein bisschen Marktwirtschaft in der SBZ
Die Freien Läden – ein bisschen Marktwirtschaft in der SBZ

Zunächst schien nicht einmal Konvergenz nötig – die Besatzungsmächte aller vier Zonen waren sich einig: Um zu verhindern, dass von Deutschland je wieder eine Aggression ausging, mussten nicht nur Kriegsverbrecher auf Seiten von Politik und Militär verurteilt, sondern auch die Großindustriellen zur Rechenschaft gezogen werden. Zahlreiche Großbetriebe wurden beschlagnahmt. Schon im November 1945 war durch ein Gesetz des Alliierten Kontrollrates der gesamte Besitz der I. G. Farbenkonzerns davon betroffen. Die Briten, die es verstanden hatten, Krupp per Militärpolizei medienwirksam aus der Villa Hügel zu entfernen, erklärten, die beschlagnahmten Werke nicht ihren früheren Eigentümern zurückzugeben. Sie versuchten gar, zumindest bis ins erste Halbjahr 1947 hinein, noch eifriger als die Planer in der Sowjetischen Besatzungszone mit Produktions- und Zuteilungsplänen der Mangelwirtschaft der Nachkriegszeit Herr zu werden.

Ludwig Erhard versus Fritz Selbmann

Dann kam der Kalte Krieg und im Sommer 1948 wurde nach der Währungsreform in den Westzonen Ludwig Erhards freie Marktwirtschaft und in der SBZ begann mit Walter Ulbrichts Zweijahrplan die (zu diesem Zeitpunkt noch nicht sozialistisch genannte) Planwirtschaft. Erhard versprach für die Westzonen freie Preise und Profite. Fritz Selbmann, Vizechef der Deutschen Wirtschaftskommission in der SBZ, verkündete in Ulbrichts Auftrag, die Wirtschaft »bis zur letzten Maschine durchzuplanen«. Größer konnte die Divergenz im Frühherbst 1948 kaum sein.

Doch bei aller rhetorischen Hervorhebung der Unversöhnlichkeit der beiden nunmehr in Deutschland installierten Wirtschaftssysteme, bewegten sie sich in der Realität doch aufeinander zu – wenn auch nur ein wenig. Erhard musste sich auf Drängen des US-amerikanischen Militärgouverneurs Lucius D. Clay und des mit der CDU aufstrebenden Konrad Adenauer dazu bequemen, mit dem »Jedermann-Programm«, das Konsumgüter zu festgelegt niedrigen Preisen lieferte, planwirtschaftliche Elemente in seiner freien Marktwirtschaft zuzulassen. Clay hatte Ende Oktober gegen unzufriedene Demonstranten, die ein Ende der Preistreiberei und die Absetzung Erhards forderten, Panzer einsetzten müssen und fürchtete eine Wiederholung jener »Stuttgarter Vorfälle«. Und Adenauer war von dem gegen die »Währungsgewinnler« gerichteten Generalstreik in der Bizone Mitte November immerhin so beeindruckt, dass er – um weitere Unruhen zu vermeiden – staatlichem Interventionismus in der Wirtschaft zustimmte, im Falle des sogenannten »Konsumbrots« sogar bis Anfang 1953. Er war es auch, der Erhard mit Blick auf die 1949 anstehenden Wahlen verpflichtete, zukünftig von »sozialer Marktwirtschaft« zu sprechen.

Proteste und Demonstrationen gab es 1948 in der SBZ schon wegen der allgegenwärtigen Präsenz sowjetischer Truppen nicht. Aber bei den Verantwortlichen der SMAD und der zuständigen Abteilung der Deutschen Wirtschaftskommission war man sich darüber klar, dass die Bevölkerung von der Währungsreform und der Verkündung des Zweijahrplanes im Sommer des Jahres mehr erwartet hatte, als die Integration der Lebensmittelrationierung in die Planwirtschaft. Im Ergebnis interner Diskussionen wurden die »Freien Läden« geboren, deren Preise sich – anders als bei den Karten – nach Angebot und Nachfrage richten sollten. Die geringer Verdienenden mussten allerdings bald erfahren, dass »HO« Rationierung über den Preis bedeutete. Auch wenn Moskau zu helfen versuchte, in dem die Reparationslieferungen von 31,1 Prozent aus der laufenden Produktion 1948 im Folgejahr auf 19,9 Prozent gesenkt wurden, konnte sich die Planwirtschaft erst Ende Mai 1958 endgültig von der Lebensmittelrationierung trennen.

Der Abstand zwischen beiden Wirtschaftssystemen in Deutschland änderte sich wieder Mitte der 60er Jahre, als in der DDR das Neue Ökonomische System (NÖS) eingeführt wurde. »Ulbricht wird liberal – in Zukunft marktwirtschaftliche Methoden in der Zone«, lauteten die Schlagzeilen in der bundesdeutschen Presse, als die Wirtschaftsreform verkündet wurde. Um eine Transformation ging es dabei jedoch nicht. Ulbricht und sein engster Wirtschaftsberater Wolfgang Berger sowie die von ihnen eingesetzten Reformer wollten den Marktgesetzen innerhalb des planwirtschaftlichen System eine echte Chance einräumen. Ulbricht begründete sein vorsichtiges Eintreten für mehr Marktwirtschaft im April 1967: »Die gesellschaftlichen Erfordernisse sind grundlegender und umfassender als die Markterfordernisse. Aber wer den Markterfordernissen nicht genügt, kann auch den gesellschaftlichen Erfordernissen nicht entsprechen.«

Vergesellschaftung von Pleitefirmen

Zu diesem Zeitpunkt bewegte sich die staatliche Wirtschaftslenkung in der Bundesrepublik ebenfalls – allerdings in Richtung Plan. »Soviel Wettbewerb wie möglich, soviel Planung wie nötig« – diese Formel hatte Karl Schiller bereits Ende der 50er Jahren geprägt. Er trat in der Ende 1966 an die Macht gekommene Regierung der Großen Koalition die Nachfolge Erhards als Wirtschaftsminister an. Mit staatlichen Konjunkturprogrammen, einer Art Zwangsvergesellschaftung der vor der Pleite stehenden Kohlekonzerne in der Ruhr AG und einer mittelfristigen Finanzplanung, gelang ihm nach der ersten Wirtschaftskrise der Bundesrepublik ab 1967 der »Aufschwung nach Maß«. Die Konvergenz beider deutschen Wirtschaftssysteme war offensichtlich, auch wenn die politisch Verantwortlichen in Ostberlin und Bonn die damals in Westeuropa grassierende und auch unter Wirtschaftswissenschaftlern in der DDR diskutierte Konvergenztheorie weit von sich wiesen.

Der Konvergenzphase folgte in der ersten Hälfte der 70er Jahre eine erneute Periode der Divergenz. Honecker stürzte 1971 Ulbricht und ordnete unter dem Schlagwort »bilanzierter Plan« die Rückkehr zum administrativ-zentralistischen Wirtschaftssystem der 50er Jahre an. In der Bundesrepublik läutete Helmut Kohl 1982 die neoliberale Wende ein. Die Divergenz zwischen beiden deutschen Wirtschaftssystemen nahm bis zum Herbst 1989 weiter zu.

Der Triumph des Neoliberalismus

Der Sturz Honeckers bedeutete auch die Chance einer erneuten Integration marktwirtschaftlicher Elemente in die Planwirtschaft bzw. die Aufrechterhaltung planwirtschaftlicher Elemente in der »sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft«, für die sich die Regierung Modrow und der Runde Tisch Ende Januar 1990 entschieden hatten. Je mehr die politische Entwicklung auf eine, wie man damals meinte, erst mittelfristig zu realisierende deutsche Einheit zusteuerte, um so eifriger wurde auch an der Konvergenz beider deutscher Wirtschaftssysteme gearbeitet. Dabei sollte sich eigentlich nur die DDR bewegen. Doch wurde ihr in dem Ende Januar 1990 veröffentlichen Gutachten der buindesdeutschen Wirtschaftsweisen immerhin zugebilligt, nicht eine »staatsfreie Wirtschaft« werden zu müssen. Eine derartige Konvergenz hätte Folgen auch für die westdeutsche Wirtschaft gehabt und zumindest die unter Kanzler Kohl 1982 in Gang gekommenen Privatisierung von Staatsbetrieben im Interesse des »Aufeinanderzuwachsens« beider deutscher Ökonomien verlangsamt.

Doch zu einer derartigen Konvergenz beider deutscher Wirtschaftssysteme sollte es nicht mehr kommen. Bereits Anfang Februar 1990 hatte der Bundeskanzler mit der Formel von der »Wirtschafts- und Währungsunion am Anfang des Einigungsprozesses« den Weg zum vollständigen Ersatz der DDR-Planwirtschaft durch die bereits neoliberal eingefärbte Marktwirtschaft der Bundesrepublik gefunden. Der Rest war eine Frage des politischen Kräfteverhältnisses. Die Währungsunion vom 1. Juli1990 beendete nach mehr als 40 Jahren die Zeit der Divergenz bzw. Konvergenz beider deutschen Wirtschaftssysteme zugunsten des (vorläufigen) Triumphes des Neoliberalismus in Deutschland.

Der Wirtschaftshistoriker und Kuczynksi-Schüler Prof. Dr. Jörg Roesler (Jg. 1940), bis 1992 an der Akademie der Wissenschaften der DDR tätig, danach bis 1996 am Zentrum für Zeithistorische Forschungen in Potsdam, ist häufig Gastdozent in den USA und Kanada; jüngstes Buch: »Die Wiederaufbaulüge der Bundesrepublik«.
Nächste Folge: Die Verfassungen beider deutscher Staaten (Erich Buchholz).

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