Kein Rechtsstaat. Aber deswegen doch kein Unrechtsstaat

Bautzen, Waldheim, Willkür, Alternativlosigkeit, keine Gewaltenteilung – das alles war die DDR (auch) ...

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»Es war ja nicht so, dass ein idealer Staat auf einen verdammenswerten Unrechtsstaat stieß. Die alte Bundesrepublik hatte auch Schwächen, die DDR auch Stärken.« Mit seinem Interview-Hinweis (FAS), das Leben in der DDR differenziert zu betrachten, löste Erwin Sellering (SPD), Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, heftige Kritik bei CDU, eigener Partei und Ex-Bürgerrechtlern aus. Dagegen bekräftigt FRIEDRICH SCHORLEMMER das Mühen um eine weniger einseitige Geschichtsbetrachtung.
Friedrich Schorlemmer
Friedrich Schorlemmer

Wer heute als Demokrat zu sagen wagt, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen, kann sich des öffentlichen Zorns sicher sein. Mit Pawlowschem Reflex schreien einschlägige Figuren im Politgeschäft »Verharmlosung! Beleidigung der Opfer! Rücktritt!« und Ähnliches.

Der nun fast zwanzig Jahre währende Versuch einer Generaldeligitimierung der DDR nimmt selber schon totalitäre Züge an – als ob Differenzierung schon Bagatellisierung, als ob Erklärung des Systems schon Verklärung bedeutete. Jene Formel taugt nicht zur umfassenden Charakterisierung der DDR als politischem System, schon gar nicht des alltäglichern Lebens der Bürger in der DDR. Diesen totalitären Staat mit einer totalitären Formel zu erledigen, bedeutet in der Konsequenz, dass man ihn an die Seite, gar auf gleiche Höhe mit dem Unrechtsstaat der deutschen Geschichte schlechthin, dem Hitler-Goebbels-Himmler-Staat stellt. Was Unrechtsstaat ist, konnte man in einer ZDF-Sendung »History« vor wenigen Tagen von Ermächtigungsgesetz bis »Röhmputsch« beklemmend erkennen. (Da lob ich mir die DDR!)

Wenn man die DDR als einen Unrechtsstaat bezeichnet, so wird mangelnder Widerspruchsmut und feige Anpassung der Masse der Bürger verständlich, verzeihlich gemacht, wenn nicht gar entschuldigt, so, als ob es nur um die Alternative »Sich unterwerfen« oder »Nicht mehr leben können« gegangen wäre. Wenn die DDR ein Unrechtsstaat war, wird jeglicher Widerspruch der zu Wenigen heroisiert und das Gehorchen, das Mitmachen und Mitlaufen zu Vieler bagatellisiert.

Freilich wird nie zu verschweigen sein, was Bautzen und Waldheim bedeuteten, was willkürliche Enteignung oder Rechtlosigkeit in politischen Prozessen anlangte, was zynisch Aktion »Ungeziefer« genannt wurde und Zwangsumsiedlung aus dem Grenzbereich war – und vieles mehr an Unrecht, Leid. Es ist richtig, dass die DDR unter festgeschriebenem Führungsanspruch der SED keine politischen Alternativen zuließ, nicht einmal innerhalb dieser Partei, und dass jegliche Opposition kriminalisiert wurde. Die DDR war ein Einheitsstaat, nämlich ohne Gewaltenteilung, und die SED teilte nach ihrem Gutdünken Kompetenzen zu.

Der Einheitsstaat unter Führung der SED proklamierte eine Einheitsgesellschaft, in der Staat, Regierung und Gesellschaft sich angeblich ganz einig waren, alles einmütig beschlossen oder aber in Wahlen, die gar keine Wahl ließ, feierlich bestätigte. Ob die Herrschenden sich dieser Selbsttäuschung bewusst waren oder ob sie wirklich ihren Bürgern trauten, kann man nicht offen lassen, denn sonst hätten sie nicht einen solchen riesigen Sicherheitsapparat aufgebaut. Die SED-Führung litt Jahrzehnte lang an einer Art Wirklichkeitsallergie. Das Mitmachen, gar die Überzeugung oder Begeisterung vieler für ihren »sozialistischen Friedensstaat« kann man dann besser verstehen, wenn man sich klar macht, dass dieser Staat nach seinem eigenen Selbstverständnis seinen Bürgern dienen, den Frieden sichern, Gerechtigkeit schaffen, für die einfachen, arbeitenden Menschen neue Chancen eröffnen, Ausbeutung abschaffen, Arbeit, Wohnung, Bildung garantieren, kulturvolles Leben für alle ermöglichen wollte. Die DDR war ein Sozialstaat, der wenig Freiheit ließ, aber keinen durchs Netz fallen lassen wollte.

Die DDR war kein Rechtsstaat., sofern man darunter ein einen Staat mit funktionierender Gewaltenteilung versteht. Aber sie wurde von vielen als ein Sozialstaat erlebt: Eine Kriegswitwe, die sich als Waschfrau verdingen und vier Söhne durchbringen musste, die sie schließlich ohne Finanzsorgen studieren lassen konnte, wird summa summarum gute Erinnerungen an die DDR haben, ebenso eine vor Pinochet geflohene junge Frau, die hier Medizin studieren konnte und jetzt Präsidentin Chiles wurde. Ganz zu schweigen von den KZ-Überlebenden, die VVN-Rente bezogen haben.
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Der Deutungskampf über die DDR-Geschichte verläuft immer noch nach den politischen Gesetzen des Kalten Krieges: Hier die Guten, da die Bösen. Das ist einer demokratischen Diskussionskultur unwürdig und verhindert bei denen, für die die DDR ihr Lebensprojekt war, kritische Rückschau.
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Das alles hatte eine fatale Voraussetzung: Die Unterwerfung unter den Führungsanspruch der SED, politisch, ideologisch, ökonomisch. Der Gehorsam wurde mit Wohltaten belohnt, die kommunistische Überzeugung mit Karriereaussichten verbunden, jeglicher Widerspruch oder Widerstand – je nach politischen Gutdünken – mit abschreckenden Repressionen bedacht. Es gab ein sehr eingeschränktes Recht des Einzelnen gegenüber dem Staat, der – in unheilvoller Verquickung von Partei- und Staatsorganen – den Gefügigen durchaus dienlich war und wegen seiner humanistischen Ziele ebenso vielen die Augen oder den Verstand für die Wirklichkeit verklebte. Oder mit »Parteilichkeit der Wahrheit« die Kunst des Schielens perfektionierte. Rechtlos war jeder, der in die Fänge der Stasi oder gar in deren Untersuchungsanstalten eingeliefert wurde. Auch die Militärjustiz mit der Drohung, nach Schwedt zu kommen, war abschreckend, war schreiendes, für Betroffene nachwirkendes Unrecht. Die Art, wie politische Prozesse geführt wurden (ganz unter Ausschluss der Öffentlichkeit), gehörte zu jenem politischen Unrecht, das nicht zu beschönigen ist.

Zugleich muss man im Blick behalten, dass es im Zivilrechtlichen eine Gesetzgebung gab, die sich durchaus in manchem dem BGB angelehnt hatte. Man denke an Arbeits-, Familien-, Jugendschutz-, Verkehrs- und Handelsrecht. Die DDR war ein Einheitsstaat unter festgeschriebener Führung der SED, die dem objektiven Verlauf der Geschichte praktische Gestalt zu geben beanspruchte – im Interesse des Friedens, der Völkerverständigung und der Gerechtigkeit.

Wer einmal diesen Zielen sich verschrieb und dabei ein bestimmtes Parteilichkeits- und Feindbilddenken mitvollzog, konnte mit gutem Gewissen mitwirken, bestimmt von einem Konglomerat aus Überzeugung und Angst, aus einer rührseligen und pathetischen Mischung aus Friedensliebe und Anerkennung der Militarisierung der Gesellschaft.

Die »Unrechtsstaat«-Formel

trägt nicht. Denn mit dieser Formel ist nicht alles gesagt, was über durchaus glückendes Leben im Staat, und zwar neben dem Staat, unbeeindruckt vom Staat, in Alternativkulturen und trotz dieses Staates gesagt werden muss.

Wer die Generalverurteilungsformel kritisiert, will nicht relativieren, sondern präzisieren, will weder beschönigen noch dämonisieren. Der Deutungskampf über die DDR-Geschichte ist in vollem Gange und verläuft immer noch nach politischen Gesetzen des Kalten Krieges: Hier Gute da Böse. Das ist demokratischer Diskussionskultur unwürdig und verhindert bei denen, für die die DDR ihr Lebensprojekt war, kritische Rückschau. Es gibt wahres Leben im falschen System, weil es das richtige Leben im richtigen System wohl nie geben wird. Der freiheitliche Staat ist übrigens gerade dabei, seine sozial-ökonomische Grundlage global aufs Spiel zu setzen.

Mit Ende des Sowjetsystems verlieren die westlichen Demokratien immer mehr das Gleichgewicht zwischen bürgerlichen und sozialen Freiheitsrechten. Das rührt inzwischen an die Grundlagen des Rechtsstaats, der nicht zuletzt von der Akzeptanz seiner Bürger lebt.

Friedrich Schorlemmer, geb. 1944, ist Theologe, Essayist. Der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels war Oppositioneller in der DDR.

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