Die Dagebliebene

In einer Produktionsschule werden in Rothenklempenow Jugendliche auf das Arbeitsleben vorbereitet. Doch auf was soll man sich vorbereiten, wenn es Arbeit in der ländlichen Region in Mecklenburg-Vorpommern kaum gibt?

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 9 Min.
In Rothenklempenow werden Schüler ohne Hauptschulabschluss auf ein Leben jenseits von Hartz IV vorbereitet.
In Rothenklempenow werden Schüler ohne Hauptschulabschluss auf ein Leben jenseits von Hartz IV vorbereitet.

Ob sie jemanden in ihrem Freundeskreis kenne, der eine ganz normale Lehrstelle in einem ganz normalen Betrieb macht, in einem, der etwas herstellt, von dem es Einträge in den Gelben Seiten gibt, den man rufen kann, wenn die Waschmaschine kaputt ist oder bei dem man morgens seine Frühstücksbrötchen kauft. Die Frage erstaunt die junge Frau für einen Moment. »Nein«, sagt Melanie W. nach kurzem Zögern, so jemanden kenne sie nicht. Eine Freundin hat es zwar mit einer Lehre in einem Hotel versucht, doch da flog sie nach kurzer Zeit hochkant raus. »Der Kunde ist König«, habe der Hoteldirektor der Freundin erklärt, »und der erwartet ein Mindestmaß an Freundlichkeit«.

Es ist keine verkommene Jugend, keine Null-Bock-Generation, von der im Nachfolgenden die Rede sein wird. Es sind eigentlich ganz normale Jugendliche, die allerdings schwierige Startbedingungen ins Leben haben. Einen Ausbildungsplatz in einem Betrieb finden hier nur zwei von drei Jugendlichen, bundesweit sind es über 90 Prozent

Wer im äußersten Osten von Mecklenburg-Vorpommern der Armut entgehen will, muss bereit sein, Wege zu gehen, die notfalls hunderte von Kilometern weg von der Heimat führen. Wer hier einen Arbeitsplatz hat, der nicht von der Arbeitsagentur (ARGE) finanziert wird, zählt schon zu den Privilegierten. Wenn Jugendliche überhaupt eine Lehrstelle bekommen, dann oft nur in einer sogenannten außerbetrieblichen Ausbildungsstätte bei öffentlichen Trägern und ohne Aussicht auf Übernahme in ein reguläres Arbeitsverhältnis. Das Leben wird in Zwei- oder Drei-Jahres-Schritten vorausgeplant. Es sind vor allem Frauen, die deshalb kaum noch etwas in dieser Region hält. Der Landkreis ist laut einer Studie des Sozialverbandes vdk bundesweit Spitzenreiter bei der Abwanderung dieser Bevölkerungsgruppe. In der Altersklasse der 18- bis 29-jährigen Frauen hat bereits ein Viertel der Gegend für immer den Rücken gekehrt. Der Geburtenrückgang ist dramatisch. Bis 2025 wird es laut vdk 51 Prozent weniger Kinder unter drei Jahren geben als heute.

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Melanie W. gehört zu den Hoffnungsträgern, die geblieben sind. Sie ist hier geboren und aufgewachsen. Weggehen, nein, das möchte sie nicht, sagt sie bestimmt, um sogleich einzuschränken, »wenn ich nicht muss«. Die 19-Jährige hat eine für diese Gegend nicht ungewöhnliche Kindheit erlebt. Bis zur sechsten Klasse war Melanie eine gute Schülerin. Dann trennten sich die Eltern, und die Pubertierende hatte mit allen Problemen zu kämpfen, die ein solcher Einschnitt ins Leben mit sich bringt. Ihre Mitschüler müssen gespürt haben, dass da ein Opfer ist, das als Sündenbock taugt; der Vater alkoholkrank, die Mutter eine ALG-2-Empfängerin, die als Putzfrau in der Sparkasse den Hartz-IV-Regelsatz aufstockt. Niemand hat Melanie geholfen, als sie gemobbt wurde, auch die Lehrer nicht. Die registrierten nur, dass das Mädchen »bockig« wurde, den Stempel »schlechtes Sozialverhalten« wurde sie nicht mehr los.

»Die Lehrer waren wohl froh, als ich immer häufiger nicht mehr zum Unterricht erschien«, sagt Melanie W. rückblickend. Die Schule hat sie schließlich ohne Abschluss verlassen. Eine Lehrstelle bekommt man so nirgendwo. In einer außerbetrieblichen Ausbildungsmaßnahme im Hotelgewerbe hat sie dann versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Mit ihrer Ausbilderin hat sie sich aber von Anfang an gezofft, so wie vorher mit den Lehrern in der Schule. Das mag kein Chef gerne, und so war nach zwei Monaten auch dieses Kapitel abgeschlossen.

Seit einem Jahr ist sie an der Produktionsschule in Rothenklempenow unweit der Kreishauptstadt Pasewalk. Schulverweigerer, Lehrabbrecher und ehemalige Förderschüler können hier berufliche Grundkenntnisse erlernen, um vielleicht später doch noch in einem Beruf Fuß zu fassen, und sei es als Hilfsarbeiter. Melanie W. ist eine der Besten hier. Es sei ihre letzte Chance, habe ihr der Sachbearbeiter in der ARGE erklärt, und Melanie wusste in diesem Moment instinktiv, dass sie zugreifen muss. Im Sommer will sie in Rothenklempenow ihren Hauptschulabschluss nachholen. Den schaffen nur wenige an dieser Schule.

In der Schule lernen und arbeiten im Schnitt 57 Jugendliche im Alter von 15 bis 20 Jahren. »Für die Mehrheit ist das hier die letzte Chance, überhaupt noch im Berufsleben Fuß zu fassen.«, sagt die Schulleiterin Christiane Hoppe. Sechs solcher Schulen gibt es in Mecklenburg-Vorpommern, die von der Ausbildungs- und Beschäftigungsgesellschaft inab betriebene Einrichtung in der 700-Seelengemeinde Rothenklempenow im Amt Löcknitz-Penkun residiert seit 2004 auf dem weitläufigen Gelände des alten ehemaligen Gutshofes derer zu Eickstedt.

An der Schule arbeiten insgesamt neun Mitarbeiter: Werkstattpädagogen, Sozialpädagogen, Sachbearbeiter. Zwei Lehrer von der Europaschule im nahen Pasewalk ergänzen das Team. Sie sind für den Berufsschulunterricht zuständig. Die Maßnahme dauert maximal 18 Monate, einsteigen können die Jugendlichen zu jeder Zeit. Sechs Berufsbereiche gibt es – von der Holz- und Metallverarbeitung bis zu Forstwirtschaft, Garten- und Landschaftsbau sowie Hauswirtschaft und Büro.

Finanziert wird die Einrichtung überwiegend mit Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds, Geld gibt es aber auch von den Jobcentern, den Jugendämtern und dem Land Mecklenburg-Vorpommern. Die Finanzierung ist bis 2010 gesichert, die Perspektive reicht derzeit bis 2013. Was danach kommt, steht noch in den Sternen, sagt die Schulleiterin. Geld kommt auch über die Arbeit in den Werkstätten in die Kassen. Verkauft wird das, was die Jugendlichen produzieren: Marderfallen zum Beispiel oder Schranken für öffentliche Verwaltungen oder mal auch ein CD-Regal für einen Privatkunden. Bei Peter Kitscha in der Metallwerkstatt arbeiten zur Zeit Jefgenij und Artem, die beide aus der Ukraine stammen. »Der Jefgenij macht sich gut als Dolmetscher für Artem, der schlecht Deutsch spricht«, erzählt Kitscha. Beide fertigen heute an der Drehbank Teile für ein neues Geländer an. Auftraggeber ist die Gemeinde. »Das ist für die Jungs etwas Neues«, sagt Kitscha. »Wenn die beiden demnächst durch das Dorf gehen, gibt es dort auch etwas, was sie geschaffen haben.«

»Primäres Ziel unserer Pädagogik ist es, die Jugendlichen berufsfähig zu machen«, sagt Christiane Hoppe. Berufsfähig, das heißt zu lernen, morgens regelmäßig zur gleichen Zeit aufzustehen, Bitte zu sagen, wenn man etwas möchte, und Danke, wenn man es erhalten hat. Berufsfähig heißt aber auch, den Jugendlichen das Selbstvertrauen wiederzugeben, das ihnen vielfach in der Schule genommen wurde. »‹Du bist eh zu dumm zum Lernen‹ ist ein Satz, den unsere Jugendliche oft von den Lehrern gehört haben«, berichtet Christina Hoppe. Von vielen Erwachsenen werden sie schon lange nicht mehr nach ihren Wünschen, Hoffnungen oder Zielen gefragt. Wenn der Vater seine Tage zwischen Wohnzimmercouch und Kühlschrank verbringt, in dem der Biernachschub deponiert ist, dann ist es auch kein Wunder, wenn es dem Sohn schwerfällt, sich Tag für Tag frühmorgens aus dem Bett zu quälen, um zur Arbeit zu gehen. Die antrainierte Lethargie kann manchmal durch einen einfachen Satz durchbrochen werden. »Was möchtest Du hier tun, warum kommst Du zu uns?«, lauten die erste Fragen, die Christiane Hoppe den Jugendlichen beim Aufnahmegespräch stellt. »Für viele ist das eine überraschende Frage«, sagt die Sozialpädagogin, denn den meisten sei bislang nur Ablehnung und Desinteresse entgegengeschlagen. Die Fragen zeigen rasch Wirkung, berichtet Hoppe. »Ich will von Zuhause raus, weil mir da die Decke auf den Kopf fällt«, heißt es dann, und vielleicht auch: »Wenn ich es hier schaffe, dann schaffe ich es auch anderswo.«

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Der Soziologe Heinz Bude schreibt in seinem jüngsten Buch »Die Ausgeschlossenen«, dass die Gesellschaft längst nicht mehr in ein »Oben« und ein »Unten« unterteilt ist, sondern in jene, die »drinnen« sind und jene, die »draußen« bleiben müssen. Der wirtschaftliche Wandel in der alten BRD habe schon immer Gruppen hervorgebracht, die nicht mithalten konnten. Solche Randgruppen waren früher die alleinerziehenden Frauen, die katholischen Mädchen vom Lande, denen keine Bildung und damit keine soziale Eigenständigkeit zugestanden wurde. Immer aber, so Bude, gab es die Perspektive, an diesem Zustand etwas zu ändern. Generationen von Sozialarbeitern, Ärzten, Therapeuten und Lehrern haben daran gearbeitet, auch wenn die Eintrittskarte für das »Drinnen« für viele darin bestand, dass sie in schlecht bezahlten Jobs schuften mussten. Heute aber, so Bude weiter, bringt der »rapide soziale Wandel eine Gruppe von Überflüssigen und Entbehrlichen hervor, die sich mehr oder minder zufällig am falschen Ort befinden, wo die alten Industrien niederbrechen, oder die immer noch einer vergangenen Zeit nachhängen, als man den Wert der Arbeit danach bemaß, wie dreckig die Hände waren«. Die Zugänge für die Welt der Bürgerlichkeit sind ihnen durch Bildungshürden, aber auch fehlende soziale Infrastruktur verwehrt. Es fehlt am Notwendigsten, wodurch Zivilität überhaupt erst entstehen kann: Schulen, Bibliotheken, Kinos, Vereine. Hochschulabsolventen und Bildungsbürgertum sucht man hier dann vergeblich. Wer kann, zieht aus diesen Gegenden weg. Wer zurückbleibt, bleibt unter seinesgleichen und kommt nicht einmal mehr in die Lage, sich durch Niedrigstlöhne ausbeuten zu lassen. Die Soziologie hat hierfür einen Begriff geprägt: Exklusion.

Der Landstrich am östlichsten Rand von Mecklenburg-Vorpommern ist eine Art lebendes Labor für Soziologen. In anderen Gegenden Deutschlands mag in der Mittelschicht die Angst umgehen, wegen der globalen Wirtschaftskrise auf den nächsten Urlaub verzichten zu müssen und den gut erhaltenen PKW noch zwei Jahre länger fahren zu müssen, hier am Rande des deutschen Ostens wären viele schon damit zufrieden, überhaupt zu einer Schicht zu gehören, die gebraucht wird. Das Gros der Jugendlichen auf dem alten Gutshof in Rothenklempenow, der vor einigen Jahren von der Gemeinde mit Liebe zum Detail wieder hergerichtet wurde, lebt in sogenannten Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften. Was unter einer geregelten Tätigkeit zu verstehen ist, wissen viele nur aus dem Fernsehen. Seit wann er denn auf der Produktionsschule ist, will ich von dem 18-jährigen Patrick R. wissen. »Seit dem ersten September«, sagt er leise. »Und was hast du all die Jahre davor gemacht?« »Nix besonderes, nur rumgehangen«, meint er schulterzuckend. Viele ihrer Schüler, berichtet Christiane Hoppe, haben noch nie etwas anderes gesehen als die Dörfer der Umgebung. »Im letzten Sommer waren wir mit einer Gruppe von Jugendlichen in Barth. Die meisten waren zum ersten Mal in ihrem Leben an der Ostsee.« Dabei liegt der Ostseestrand kaum eine Autostunde entfernt.

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Vom Ostseestrand träumt Melanie W. derzeit nicht. Ihr Plan reicht bis zum Sommer. Dann, so hofft sie, erhält sie einen Ausbildungsplatz im nahen Ueckermünde im Bereich Hotel- und Gaststättengewerbe. Aber auch der ist außerbetrieblich, bedeutet also nur eine kurze Verschnaufpause zwischen zwei Hartz-IV-Runden. Seit kurzem hat Melanie Kontakt zur Schwester ihrer Mutter. Die wohnt nicht weit weg und hat ein Hotel. Vielleicht kann sie ja dort in die Lehre gehen. Das wäre das große Los. Für die ferne Zukunft träumt sie von einem Realschulabschluss und einer Arbeit als Pflegehelferin in einem Altersheim. Sie sagt »Pflegehelferin«, als ob für eine junge, intelligente Frau, die Manieren hat und sich auszudrücken weiß, die Aussicht, als Hilfskraft anderen zur Hand zu gehen, bereits der Endpunkt persönlicher Bildungsambitionen wäre.

Im Sommer wird Melanie ihren Bruder in Nürnberg besuchen. Seit zwei Jahren arbeitet der gelernte Gerüstbauer dort als Sterilisationsassistent in einem Krankenhaus. Es wird die erste lange Reise in ihrem Leben sein, denn bislang ist sie über die Landeshauptstadt Schwerin nicht hinausgekommen. »Wenn es in Nürnberg schön ist«, sagt sie, »dann ziehe ich vielleicht auch dorthin.« Dann wäre auch Melanie W. weg.

Hierbleiben möchte die 19-jährige Melanie gerne – wenn sie in der Region im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns Arbeit findet.
Hierbleiben möchte die 19-jährige Melanie gerne – wenn sie in der Region im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns Arbeit findet.
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