Stabilisierung ohne Vision

Der Autor ist Wirtschaftsredakteur dieser Zeitung

Kolumne: Stabilisierung ohne Vision

Die Krise hat in der Welt der großen internationalen Finanz- und Wirtschaftspolitik für allerlei Bewegung gesorgt. Der elitäre G7-Zirkel der mächtigsten Industriestaaten, der früher allein alle wichtigen Regeln setzte, hat abgewirtschaftet. Längst verhandeln die wichtigsten Schwellenländer in der G20 auf Augenhöhe mit.

Die Agenda beim zweiten G20-Finanzgipfel kommende Woche in London ist lang. Banken, andere Finanzakteure wie die berüchtigten Hedge-Fonds und auch extrem riskante Produkte wie die Finanzderivate sollen einer strengeren staatlichen Regulierung unterzogen werden. Das auf die Leitwährung Dollar ausgerichtete System mehr oder minder freier Wechselkurse, das zu fatalen Spekulationen geradezu einlädt, steht zur Disposition. Und starker Druck wird auch auf die Steueroasen ausgeübt – die europäischen lockern bereits ihr immer als sakrosankt verteidigtes Bankgeheimnis ohne viel Federlesen, nur weil US-Präsident Barack Obama mal streng Richtung Schweizer Berge geblickt hat.

Noch vor einem guten halben Jahr, bevor der Crash einer großen Investmentbank den Zusammenbruch des alten Weltfinanzsystems einläutete, wäre eine solche Entwicklung auch in linken Kreisen sicher begrüßt worden. Angesichts der tiefen globalen Wirtschaftskrise, deren soziale Folgen erst in den nächsten Monaten so richtig zu spüren sein werden, fällt die Bewertung überwiegend negativ aus: Die auf der Tagesordnung stehenden Maßnahmen sind bei Weitem nicht ausreichend und einseitig auf die Finanzwelt ausgerichtet, während soziale und ökologische Kriterien bestenfalls als abgeleitete Größen auftauchen.

Auch der G20-Gipfel orientiert sich bei den anvisierten Reformen eben an den Strukturen der alten Weltfinanz(un)ordnung. Ein Verbot von Hedge-Fonds und bestimmten Derivaten steht ebenso wenig zur Debatte wie die Austrocknung aller Finanzoasen und Steuerprivilegien, obwohl dies angesichts der gewaltigen öffentlichen Defizite dringend erforderlich wäre. Und ausgerechnet der Internationale Währungsfonds (IWF) soll durch Errichtung eines Frühwarnsystems für Finanzkrisen und durch mehr Mittel für Notkredite aufgewertet werden.

Auch die Tradition der Lippenbekenntnisse findet auf dem Londoner Gipfel ihre Fortsetzung – etwa bei der Warnung vor Protektionismus. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Bei den völlig unkoordinierten nationalen Krisenbekämpfungsprogrammen geht es darum, heimische Großbanken und künftig verstärkt auch Industriekonzerne zu stabilisieren, die nicht crashen dürfen. Beim Wettlauf um Subventionen bleiben aber zwangsläufig die ärmsten Länder (und Bevölkerungsschichten) auf der Strecke. Die UN-Millenniumsziele bei der globalen Armutsbekämpfung drohen daher ganz in Vergessenheit zu geraten. Und die Weltklimakonferenz im Dezember in Kopenhagen, bei der eine CO2-Begrenzung des Wachstumsmodells und Hilfen für Entwicklungsländer bei der Anpassung an den Klimawandel verbindlich beschlossen werden sollen, mutiert zu einem lästigen Termin.

Das Krisenmanagement krankt auch im Rahmen der G20 daran, dass arme Entwicklungsländer keine Stimme haben. Gleiches gilt für die Zivilgesellschaft und Basisgruppen. Statt dessen berät, entwirft und beschließt eine kleine Gruppe von Regierungschefs und Finanzexperten, die sich in vielen Ländern einer demokratischen Kontrolle und Debatte ihrer Maßnahmen zu entziehen versuchen. Die neue Bewegung auf der »großen« Weltbühne zielt daher unter dem Eindruck der tiefen Krise auf eine Stabilisierung der Finanzmärkte – ohne echte Vision für eine Welt auf Grundlage alternativer Prinzipien und Strukturen. Es gibt viele gute Gründe, den G20-Gipfelisten durch Straßenprotest rund um die Welt Feuer unterm Hintern zu machen.

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