nd-aktuell.de / 06.04.2009 / Politik / Seite 8

Verschwunden in türkischen Brunnen

System von Morden an Kurden wird untersucht

Jan Keetman, Istanbul
In der Türkei werden jetzt auch Verbrechen gegen Kurden aufgearbeitet. Anfang der 90er Jahre verschwanden sie, wurden gefoltert und ermordet. Manche der mutmaßlichen Täter sitzen nun in Untersuchungshaft.

Es sind Geschichten, die unter die Haut gehen. Allein aus der Kleinstadt Cizre im kurdisch besiedelten Südostzipfel der Türkei zwischen Syrien und Irak werden seit rund 15 Jahren 97 Menschen vermisst. Es gab Gerüchte, ihre Leichen seien in Brunnen geworfen und in Säure aufgelöst worden. Im Rahmen der Untersuchungen gegen mutmaßliche Verschwörer der Gruppe Ergenekon sind die Behörden solchen Aussagen nun nachgegangen. Zuerst in Brunnen der Ölfirma BOTAS, dann auch in anderen Brunnen wurden menschliche Knochen und Reste von Kleidung gefunden.

Anfang der 90er Jahre lebten in Cizre etwa 60 000 Menschen, ein großer Teil davon Flüchtlinge aus zerstörten Dörfern. Nicht wenige sympathisierten mit Abdullah Öcalans Kurdischer Arbeiterpartei (PKK). Die begann eine Art Stadtguerilla aufzubauen. Selbst tagsüber bewegten sich Polizei und Militär nur noch in gepanzerten Fahrzeugen durch Cizre. Die Zeche zahlten die Bewohner: Bald gab es in der Innenstadt kein Haus mehr ohne Einschusslöcher. Die Projektile der Maschinengewehre bohrten sich durch die Lehmwände und drangen in Wohnstuben und Schlafzimmer.

Schließlich kam der Clanführer Kamil Atak nach Cizre. Er befehligte eine Truppe von Dorfschützern, eine vom Staat bezahlte und ausgerüstete, aber von traditionellen Stammesführern formierte Miliz. Atak ließ sich zum Bürgermeister wählen, und seine Leute machten nicht viel Federlesen mit mutmaßlichen PKK-Sympathisanten oder anderen Widersachern.

Eines Tages im Jahr 1994 wollte Ahmet Eris, Vater dreier Kinder, in eine andere Stadt fahren. Er verließ das Haus und wurde nie mehr gesehen. Seine Mutter sagte später einer Zeitung: »Seit mein Sohn verschwunden ist, haften meine Augen stets an der Tür. Auch die Kinder haben immer nach ihm gefragt. Ich habe ihnen gesagt, er werde kommen, aber er kam nicht.« Im gleichen Jahr wollte der damals 22-jährige Vedat Bulmus sein Radio zur Reparatur bringen. Auch er kehrte nicht wieder zurück. Fünf Jahre später untersuchte seine Familie auf eigene Faust einen Brunnen und fand dort einen Teil seiner Leiche. Ein Mann, der sich weigerte, in Ataks Auto zu steigen, wurde auf offener Straße erschossen.

Kamil Atak soll später seine Gefangenen der kurdischen Hisbollah übergeben haben, die sie vermutlich folterte, umbrachte und die Leichen in Brunnen warf. Neben Atak und seinen Leuten soll auch eine Gruppe übergelaufener PKK-Mitglieder in Cizre gewütet haben. Ein Beteiligter hat gestanden, dass sie ebenfalls Menschen in Brunnen geworfen hätten. Manchmal hätten sie aber auch einfach Handgranaten in die Häuser geworfen und Geld und Schmuck erpresst. Diese Überläufer hatten freie Hand, unterstanden aber der Oberaufsicht des örtlichen Befehlshabers der Gendarmerie, Cemal Temizöz, der angeblich von ihrem Treiben wusste und es billigte. Temizöz, Atak und einige seiner Leute befinden sich derzeit in Untersuchungshaft.

In vielen anderen Städten, selbst im fernen Istanbul, sind in den 90er Jahren Menschen verschwunden, nachdem sie von angeblichen oder wirklichen Polizisten festgenommen worden waren. Zwei Institutionen werden in diesem Zusammenhang immer wieder genannt. Die eine ist die Geheimdienstabteilung der Gendarmerie, JITEM, die anderthalb Jahrzehnte lang tätig war, obwohl ihre Existenz bestritten wurde. Heute gibt es JITEM wohl nicht mehr, dafür aber die andere Institution, die für das Verschwinden von Oppositionellen verantwortlich sein soll: das archaische System der Dorfschützer.