Praxis, Pornos, Postanarchos

Es gibt zwar noch Anarchisten, aber keine Bewegung – oder nur eine äußerst schwache

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 4 Min.
Seit Monaten geplant, sollte der anarchistische Kongress am Osterwochenende die erste große Zusammenkunft seit Jahren werden. Rund 500 Menschen kamen nach Berlin. Doch statt einer eindrucksvollen Demonstration der anarchistischen Bewegung zeigte der Kongress vor allem, wie unorganisiert sie ist.

K-Kongresse gab es in den letzten Jahren immer wieder: Mal stand der Großbuchstabe visionär für Kommunismus, mal etwas vorsichtiger nur für den herrschenden Kapitalimus. Die Großveranstaltungen von Sozialisten und Globalisierungskritikern brachten offenbar auch Anarchisten auf die Idee, sich mal wieder deutlicher in Erinnerung zu bringen. Der A-Kongress vom vergangenen Wochenende klang ambitioniert: »Anarchismus im 21. Jahrhundert – Anarchie Organisieren« war er überschrieben. Der Doppeltitel sei bewusst gewählt, betonte ein Organisator, der Wert auf die Feststellung legt, dass es keinen Kongresssprecher gibt. Um Vernetzung und Weiterbildung der anarchistischen Szene sollte die viertägige Veranstaltung beitragen und dafür sorgen, dass der Anarchismus in der Öffentlichkeit wieder stärker wahrgenommen wird.

Tatsächlich sorgte der Kongress schon vor Beginn für Aufsehen, allerdings nicht im Sinne der Veranstalter. Das Berliner Springerblatt BZ machte einen Tag vor der Eröffnung auf einer ganzen Seite gegen das »Chaotentreffen an der TU« mobil. Die Technische Universität untersagte daraufhin die Nutzung ihrer Räume. Der Kongress musste überstürzt in ein Stadtteilzentrum in Berlin-Kreuzberg verlegt werden.

Chaos und Revolution wurde dort allerdings nicht geplant. Das einzig Chaotische war die schlechte Logistik, die jedoch dem unfreiwilligen Ortswechsel geschuldet war. Überfüllte Räume, Arbeitsgruppen im Freien erschwerten tiefergehende Diskussionen. Neben den widrigen Umständen wurden aber auch schnell Konflikte sichtbar, die sich schon bei der Kongressvorbereitung gezeigt hatten. Denn die in Berlin eigentlich sehr aktive anarchistische Szene war kaum vertreten. Und offenbar haben auch die Anarchisten Generationskonflikte: Die meisten Referenten waren deutlich über 40, das  Publikum im Schnitt 20 Jahre jünger. Viele Nachwuchs-Anarchos sind in erster Linie am persönlichen Austausch interessiert. Die 17-jährige Mareike will vor allem Freunde  treffen, die Workshops seien ihr nicht so wichtig, erklärte die Schülerin, die im Hamburger Schanzenviertel in einer WG lebt. Eine vegane Lebensweise, also die Ablehnung von tierischen Produkten, ist für sie eine politische Aussage. Während sie über die »anarchistische Volkshochschule« lästert, rümpft manch Grauhaariger über »junge Lifestyle-Anarchisten« mit ihren Anti-Nazi-Buttons und Go-Vegan-Aufnähern die Nase.

Generationskonflikte ziehen sich durch die anarchistische Geschichte. Auch die alten spanischen Anarchisten im französischen Exil hätten die hedonistische Neue Linke der späten 60er Jahre nicht mehr verstanden, weiß der 54-jährige Dietrich aus Berlin. Der arbeitslose Sozialpädagoge hat das Programm gründlich durchgearbeitet. Schon seit seiner Studienzeit interessiert er sich für die anarchistische Kritik von Herrschaft und Macht. Für eine fundierte Kapitalismuserklärung greife er allerdings noch immer zu den Bänden von Karl Marx. »Auf diesem Gebiet haben anarchistische Theoretiker wenig zu bieten«, findet Dietrich. 

Ein »Verständigungsproblem« führte schließlich auch zum vorzeitigen Abbruch des Kongresses. Mitglieder der Gruppe »Fuck for Forest«, die Nacktheit als politische Praxis propagiert, hatten sich ihrer Kleidung entledigt und damit bei anderen die Schmerzgrenzen überschritten. Die Gruppe verfolgt ihre politischen Ziele mit einer – vorsichtig formuliert – ungewöhnlichen Geschäftsidee: Sie produziert und verkauft Pornos und will damit Geld zur Rettung des Regenwaldes sammeln.  Nach stundenlangen Debatten, wie man auf die Aktion reagieren solle, erklärte das Organisationsteam  den Kongress entnervt für beendet.

Die Auseinandersetzung läuft in verschiedenen Internetforen weiter. Einige sehen in  dem Unvermögen, den Konflikt zu lösen, ein allgemeineres Symptom: »Die Geschehnisse des Wochenendes zeigen einen desolaten Zustand der anarchistischen Bewegung in Deutschland, der geprägt ist von einem falschen Verständnis von Anarchie und dem Ausblenden bestehender Herrschaftsverhältnisse«, heißt es in einem Beitrag auf Indymedia. Anarchie bedeute eben nicht, die eigene Freiheit ohne Grenzen auszuleben und sich dabei über die Freiheit anderer hinwegzusetzen.

Die Dokumentationen ähnlicher Debatten im anarchistischen Spektrum füllen die Regale verschiedener Infoläden in deutschen Großstädten. Gelesen werden  sie offenbar kaum. So hat die Vorbereitungsgruppe des Berliner Kongresses  erst vor einigen Wochen erfahren, dass Mitte der 90er Jahre mit den Libertären Tagen in Frankfurt am Main der letzte bundesweite Kongress mit explizit anarchistischer Ausrichtung stattfand. Viele der damaligen Aktivisten haben sich längst aus der Szene zurückgezogen. 

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal