Tarifverträge restabilisieren

  • Rudolf Hickel
  • Lesedauer: 3 Min.
»Es bedarf der Gegenmacht durch die Gewerkschaften.«
»Es bedarf der Gegenmacht durch die Gewerkschaften.«

Im April hat die sozialstaatliche »Magna Charta« zur Regelung von Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen in den Betrieben 60. Geburtstag. Einen Monat früher als das Grundgesetz trat 1949 das Tarifvertragsgesetz in Kraft. Die dreizehn Paragraphen haben es in sich: Sie sichern die kollektive Festlegung beispielsweise von Mindeststandards bei Arbeitsentgelten und Arbeitszeit.

Das Grundgesetz sichert die Tarifautonomie. Artikel 9 garantiert das »Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden«. Dieses Koalitionsrecht basiert auf der Tatsache, dass Beschäftigte bei der individuellen Aushandlung ihrer Entlohnung wegen der Abhängigkeit vom Unternehmen Freiwild wären. Es bedarf daher der Gegenmacht durch die Gewerkschaften. Diese Machtbalance zwischen Arbeit und Kapital ist Neoliberalen ein Dorn im Auge.

Der Rückblick zeigt, das Instrument Streik gehört zur Tarifpolitik wie die Gewerkschaften zur Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten. Trotz der in den vergangenen Jahren zunehmenden Erosion, die Liste der Erfolge der Tarifpolitik ist lang: Die Arbeitsgruppe »Tarifarchiv« hat zum Geburtstag einen informativen historischen Überblick samt Wertungen vorgelegt (www.60-Jahre-Tarifvertragsgesetz.de). Einige Schlaglichter: Die Sicherung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall konnte nach einem sechzehnwöchigen Streik in Schleswig-Holstein für die Metallindustrie in den »wirtschaftswunderlichen Jahren« des Ludwig Ehrhard 1956/57 durchgesetzt werden. 1956 wurde nach dem 1. Mai-Motto »Samstags gehört Vati mir« die Verkürzung der 48- auf die 45-Stunden-Woche in der Metallindustrie durchgesetzt. 1984 wurde wiederum nach großem Streik die 35-Stunden-Woche erkämpft. Auch der Abbau von Lohndiskriminierung der Frauen war früh Thema: Auf Basis eines Urteils des Bundesarbeitsgerichts von 1955 sind die diskriminierenden »Frauenlohngruppen« aus den Tarifverträgen verbannt worden.

Seit den 1990ern hat der Druck auf das Tarifvertragssystem enorm zugenommen. Immer stärker geriet das System unter das Trommelfeuer des Neoliberalismus. Schon in der Regierungszeit Kohl versuchten Union und FDP, die gesetzlichen Bedingungen zu verschlechtern. Die Arbeitgeberverbände forderten massiv gesetzliche Öffnungsklauseln und die Abschaffung des Prinzips, vom Tarifvertrag nur zugunsten des Beschäftigten nach oben abweichen zu dürfen. 2003 drohte der damalige Bundeskanzler Schröder, gesetzliche Öffnungsklauseln durchzusetzen.

Dabei ist auch die Massenarbeitslosigkeit zur Flexibilisierung der Tarifverträge missbraucht worden. In den vergangenen Jahren sind prekäre und schlecht bezahlte Beschäftigungsverhältnisse, die sich tariflich nicht mehr gestalten lassen, gestiegen. Die Tarifbindung ist von 1998 bis 2007 von 53 Prozent im Westen und 33 Prozent im Osten auf 39 bzw. 24 Prozent zurückgegangen.

Diese Erosion muss gestoppt und das Tarifvertragssystem restabilisiert werden. Denn am Ende profitieren Unternehmen, Beschäftigte und Gewerkschaften von der kollektiven Lohnfindung. Durch tariflich gesicherte gute Arbeit wird die Motivation und so die Produktivität erhöht. Ökonomien mit stabilen Arbeitsregulierungen haben bessere Chancen, die zukünftigen Herausforderungen zu bewältigen. Allerdings bedarf es in den Beschäftigungsbereichen, die tarifvertraglich nicht mehr gestaltbar sind, gesetzlicher Mindestlöhne. Sie stärken das gesamte System der kollektiven Regulierung.

In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.

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