Die marxistische Selbstfindung

Seit 50 Jahren gibt es die linke Zeitschrift »Das Argument«. Laudatio eines Theatermannes

  • Manfred Wekwerth
  • Lesedauer: 6 Min.

»Zurückblättern« war eines der gern gebrauchten Wörter von Brecht. Er meinte damit nicht nur das Zurückblättern in Büchern, mit dem man beim Lesen, gleichsam die Zeit relativierend, Sprünge in die Vergangenheit macht, um Gegenwärtiges in seiner Hervorbringung besser zu verstehen, er meinte damit auch das Theater. Der Zuschauer solle wie beim Bücherlesen »im Geist« zurückblättern. Der erschütternde Ausruf der Mutter Courage »Der Krieg soll verflucht sein« zum Beispiel, dem man als Zuschauer wahrscheinlich zustimmt, wird nach Ansehen der nächsten Szene vielleicht »in andrem Licht gesehen«, wenn die Courage, siegesgewiss neben ihrem vollgepackten Marketenderwagen marschierend, ausruft: »Ich lass mir den Krieg von euch nicht madig machen«. Dazu sei es nötig, dass der Schauspieler den Zuschauer nicht »in seinen Bann« ziehe, dass der aus »freien Stücken« zustimmen, widersprechen, ergänzen könne. Brecht maß die Qualität einer Theateraufführung auch daran, inwieweit sie dem Zuschauer »zurückzublättern« ermöglicht.

Was liegt näher, auch beim Laudatieren für »Das Argument« einmal »zurückzublättern«, um sozusagen im Zeitvergleich festzustellen, inwieweit Entwicklungen, die stattgefunden haben, auch im »Argument« stattfanden. Schließlich nennt sich »Das Argument« nicht nur »Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften«, sondern auch Zeit-Schrift.

Im Allgemeinen sehen es Zeitschriften, Zeitungen, Zeitjournale, Zeitzeugen usw. nicht gern, wenn man in ihren früheren Ausgaben herumblättert. Und sie haben Grund dafür. Da lese ich zum Beispiel im Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik von 2005 unter dem Stichwort »Risikopräferenzfunktion«: »Einige Länder zögern, den Preis der menschlichen Arbeit entsprechend absinken zu lassen. Es ist besser, dem Markt die Entscheidung zu überlassen, welche Leistungen der geringer qualifizierte und weniger motivierte Teil der Erwerbsbevölkerung erbringen soll.«

In der »Süddeutschen Zeitung« wird der Gedanke 2007 weiterentwickelt: »Was spricht bei aller Ungerechtigkeit für den Kapitalismus? Mit etwas mehr Ungerechtigkeit lebt es sich besser. Etwas mehr Ungerechtigkeit bei der Einkommensverteilung macht auch für die weniger gut dabei Weggekommenen letztlich einen höheren Lebensstandard, als wenn man ein egalitäres System schafft, wo alle das Gleiche kriegen und alle gleichermaßen arm sind.«

Der das schreibt, nennt sich Sinn, ist Professor und Präsident des »ifo«, des Instituts für Wirtschaftforschung (nebenbei Vorstandsmitglied der Hypovereinsbank). Und er sagte voraus, was die allergrößte Gefahr für eine »kriseneliminierte Wirtschaft« sei: Einmischung des Staates in die Wirtschaft, statt den »Selbstheilungskräften des Marktes« zu vertrauen, aber die noch größere Gefahr seien »nachfrageorientierte Konzeptionen« der Wirtschaftspolitik. Und nennt die Gründe: »Die zu hohen Lebenshaltungskosten bringen den Wirtschaftsstandort Deutschland in Gefahr«. Die Lösung: »Strukturreform der Arbeitsmarktpolitik durch Öffnung der Klauseln in Tarifverträgen, Vertragsfreiheit beim Kündigungsschutz, längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich, Erweiterung des Billiglohnsektors«. Der »Hamburger Appell«, denn da steht das drin (Professor Sinn hat ihn unterzeichnet, wenn nicht gar verfasst), stammt aus dem Jahr 2005 und fordert: »Keine nachfrageorientierte Konzeptionen, konsequente Angebots-Ökonomie!«

Blättern wir ein wenig weiter. Man schreibt inzwischen das Jahr 2009 und die gesteigerten »Angebote« der konsequenten Angebots-Ökonomie stauen sich unverkäuflich auf den Halden, da offenbar die »abhängig Beschäftigten« – ebenfalls ein konsequenter Erfolg der Angebots-Ökonomie – immer weniger in der Tasche haben. Die Angebots-Ökonomen aber kennen auch diesmal den Grund: »anonymer Systemfehler«. Und sie verlangen mit gleicher Intensität, mit der sie einst die gefährliche Einmischung des Staats in die Wirtschaft verdammten, nunmehr Regeln und Schirme des Staates, um die Wirtschaft zu retten: »Als Volkswirt sehe ich nun falsche Anreize und fehlende Regeln. Schauen Sie sich den Straßenverkehr in Indien an. Die Leute fahren links, rechts, auf dem Bürgersteig, das ist abenteuerlich. Der Verkehr kommt deswegen immer wieder ins Stocken. Sind daran die ›Manager‹ an den Steuerrädern schuld oder fehlende Verkehrsregeln?... Auch in der Weltwirtschaftskrise von 1929 wollte niemand an einen anonymen Systemfehler glauben. Damals hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager.«

So zu lesen in »de.wikiquote.org/wiki/Hans-Werner_Sinn«.

In »Spiegel online« kam Professor Sinn am 13. April 2005 zu dem Schluss: »Die Entrüstung über die Gesetze des Kapitalismus ist müßig, auch wenn es die Entrüstung über die Fallgesetze beträfe, hätte Gott dafür nur ein müdes Lächeln übrig.«

Warum dies alles bei einer Laudatio für »Das Argument«? Ich erinnere mich, wie Brecht einmal 1952 dem Volksbildungsministerium der DDR den Vorschlag machte, in den Unterricht der Grundschulen das Fach »Kitsch« einzuführen. Er schrieb: »Die Größe der Prosa Tolstois erkennt man besser, wenn man sie der Ganghoferschen gegenüberstellt.«

Darum zurück zum »Argument«. In diesem Jahr beendete ich mein Buch »Mut zum Genuss – Ein Brecht-Handbuch für Spieler, Zuschauer, Mitstreiter und Streiter«, eine Art Zusammenfassung meiner bisherigen praktischen und theoretischen Theaterarbeit, und ich suchte nach einem knappen Schluss zur Frage, was das Theater in seiner – gegenüber den Medien – simplen Beschaffenheit heute, in Zeiten extremer Kompliziertheit, noch auszurichten vermag.

Versuche, das Theater, um es der Kompliziertheit anzupassen, selbst zu komplizieren, erwiesen sich als Hohlweg. Heraus kam ein neuer Naturalismus, aber einer mit den Füßen im Himmel. Denn statt dem Zuschauer Kompliziertes auszuliefern, liefert man den Zuschauer aus und »verkompliziert« ihn selbst. Kurz: Er langweilt sich.

In meiner Not blätterte ich in alten »Argument-Heften«. So im Sonderband AS 11 von 1976. Und siehe, da erschien jede kleine Flamme, die man zu Pfingsten einst auf den Häuptern der Priester gesehen haben will, die dann sogar in Sprachen sprechen konnten, die sie nie gelernt hatten. Ich entdeckte nämlich etwas höchst »Unkompliziertes«. Wie einst Konrad Lorenz mit etwas »Einfachem« das komplizierte Problem löste, wo denn das Übergangswesen zwischen Affe und Mensch abgeblieben sei, das nie gefunden wurde: »Das könnt ihr gar nicht finden, das seid ihr selbst.«

Und so fand ich die Lösung meines »komplizierten« Problems in AS 11 auf Seite 15. Das Komplizierte unserer Zeit nämlich sind die Komplizierer: »In unserer Gesellschaft spielen Rechtfertigungsstrategien eine ungemein wichtige Rolle. Daher eine große Aktualität des Tui-Themas. Für Brecht stellen diese Rechtfertigungsstrategien eine Aufgabe der Transportposition ins Theater dar. Denn er muss die Strategien, die im Alltag kaum durchschaut werden, so zeigen, dass sie im Theater durchschaut werden und dass das Publikum zugleich in den durchschauten Lügen die undurchschauten wiedererkennt und so ein Stück gewitzter das Thema verlässt.«

Wolfgang Fritz Haug schrieb das vor drei Jahrzehnten, also bevor »Kollateralschäden«, »Friedenserhaltungs-Schläge«, »enduring freedom«, »Angenda 2010«, »water-boarding«, lange bevor die Gesundheits-»Reform«, »Ich-AG«, »Humankapital«, »Arbeitskräfteentspannung« (McKinsey für »Entlassungen«) usw. überhaupt erfunden waren und Deutschland noch nicht am Hindukusch verteidigt wurde.

DIE ARGUMENTE, das sei hier laudatierend gesagt, sind für mich so etwas wie kein leichter, aber ein guter, ansteigender Weg zur – falls es so etwas gibt – marxistischen Selbstfindung. Und sie waren es schon zu DDR-Zeiten. Many, many thanks.

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