Die Gefahr des Bonapartismus

Zur wechselvollen Geschichte des allgemeinen Wahlrechts – Domenico Losurdo bietet eine aktuelle Lektüre

  • Sabine Kebir
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Ballhausschwur – Geburtsstunde der modernen Demokratie
Der Ballhausschwur – Geburtsstunde der modernen Demokratie

Domenico Losurdo ist neben Luciano Canfora der bekannteste linke Geisteswissenschaftler des gegenwärtigen Italien. Widerspruch erntet vor allem sein Begriff der Nation. Losurdo meint, dass die Linke ihn nicht aufgeben, sondern mit eigenem, positivem Inhalt füllen müsse. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch einseitiges Beharren auf dem Begriff des »deutschen Sonderwegs« in der Geschichte. Die besondere Schwere der Verbrechen Deutschlands zu betonen, dürfe den Blick nicht verstellen auf Parallelen, z. B. zu jenem Rassismus, der zur fast vollständigen Ausrottung der Indianer und zur Massensklaverei von Afrikanern führte.

Errungenschaft der Großen Revolution

Die vergessene wechselhafte Geschichte von Emanzipation und De-Emanzipation der Schwarzen spielte bereits eine Rolle in Losurdos Buch »Kampf um die Geschichte« und nun auch in seinem neusten Werk über »Demokratie oder Bonapartismus«, in dem er den Kampf um das allgemeine Wahlrecht und seine Manipulationen über 200 Jahre in verschiedenen westlichen Ländern nachzeichnet. Weil sich die Interessen der Mehrheiten bis heute nicht durchsetzen, hält Losurdo diesen Kampf für nicht beendet.

Es war die Große Französische Revolution, die die Forderung nach dem allgemeinen individuellen Wahlrecht als grundlegendes Menschenrecht nicht nur formulierte, sondern für kurze Zeit auch durchsetzte – wenn auch nur für Männer. Nach Robespierre sollte das allgemeine Wahlrecht die Teilhabe aller an der Regierung sichern und auch zu einer sozial gerechten Gesellschaft führen. Die heute übliche Privilegierung der gleichzeitig entstehenden amerikanischen Demokratie verdrängt, dass die ersten Präsidenten selbst Sklavenhalter waren. Infolge des großen Sklavenaufstands auf den französischen Antillen hoben jedoch die Jakobiner die Sklaverei auf und gestanden den Schwarzen die Bürgerrechte zu. Es war also die mit dem Ballhausschwur der Generalstände in Versailles am 5. Mai 1789 beginnende Revolution, die die Menschenrechte erstmals praktisch universalisierte.

Freilich machte Napoleon die Emanzipation der Schwarzen in den Kolonien wieder rückgängig. Und auch das allgemeine Wahlrecht, wonach jedem Weißen eine Stimme zukam, wurde bald auf beiden Seiten des Atlantiks durch rigorose Zensusbestimmungen wieder eingeschränkt, die in England übrigens bis 1948 und in den USA bis 1960 bestanden. Vor allem aber verweigerte man Neueinwanderern die staatsbürgerlichen Rechte, wodurch sie auf Segmente des Arbeitsmarkts verwiesen wurden, deren Status nur wenig über dem der Sklaverei lag.

In Frankreich konnte das allgemeine Wahlrecht durch die Revolution von 1848 zurückgewonnen werden. Allerdings fanden die Klassen, die sich in der Restauration als die führenden herausgebildet hatten, in Napoleon Bonaparte III. einen Regierungschef, der weiterhin ihren Interessen diente, weil er die Exekutivgewalt ganz auf seine Person und seine Minister übertragen ließ. Das bedeutete eine entscheidende Schwächung der Legislative, die Frankreich bis heute prägt. Der Bonapartismus war auch gekennzeichnet durch neue hegemoniale bzw. populistische Techniken, die den »Bürgerkönig« als einen gleichermaßen glanzvollen wie leutseligen Vater der ganzen Nation erscheinen ließen. Zugleich machte er einige soziale Zugeständnisse wie die Ausweitung öffentlicher Arbeiten und die Zulassung von Streiks, wenn auch nur in jeweils einzelnen Unternehmen. Generalstreik, Gewerkschaften und jegliche Form der Selbstorganisation der arbeitenden Klassen wurden um so energischer verboten. Schon Marx bezeichnete seine Herrschaft als Diktatur, obwohl allgemeines Wahlrecht herrschte.

Losurdo lenkt das Augenmerk auch auf den organisierten Niedergang der volksnahen Massenpublizistik, die die Revolutionen von 1789 und 1848 vorbereitet hatte. Napoleon III. löste dieses Problem durch hohe Lizenzgebüren. Der Bonapartismus ist also eine Regierungsform, in der eine charismatische Führerfigur starke exekutive Vollmachten besitzt und versucht, die Ideologieproduktion weitest- möglich zu steuern. Diese Regierungsform stützte sich indes auf diejenige, die in den USA schon von den ersten Präsidenten geübt wurde.

Eine kaum zu bändigende Armutsrevolte in Massachusetts/USA hatte dazu geführt, dass schon die zweite Verfassung von 1789 dem Präsidenten enorme Machtfülle zugestand, die es ihm jederzeit gestattete, den Ausnahmezustand zu erklären. Das ermöglichte ihm, nicht nur auf soziale Revolten energisch zu reagieren, sondern auch einen Krieg zu beginnen, der schon damals stets als zivilisatorische Mission umgedeutet wurde. Um den Glauben an die Demokratie zu erhalten, wurde man sich in den USA jedoch schnell bewusst, dass der Ausnahmezustand nur zeitweise herrschen darf. Aus demselben Grund wurden früh Systeme der Mandatszeitbegrenzung eingeführt. Den sich in den USA herausbildenden Demokratietyp nennt Losurdo deshalb auch Soft-Bonapartismus. Verbot von Gewerkschaften und hohe finanzielle Hürden für die Gründung neuer politischer Organisationen brachten hier schon früh eine Tendenz zum Zweiparteiensystem hervor, in dem die Interessen der ärmeren und mittellosen Bevölkerung keinerlei Vertretung mehr fanden.

Losurdo lenkt den Blick auf die oft vernachlässigte Tatsache, dass die Länder, die eine Form des allgemeinen Wahlrechts einführten, versuchten, die sozialen Spannungen durch rassistische Politik gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung zu lösen oder durch Externalisierung, d. h. durch neue Kolonialprojekte, von denen die Unzufriedenen mitprofitieren sollten. In Ländern wie Italien und Deutschland, die sich keine Kolonien dauerhaft aneignen konnten, spitzten sich die sozialen und politischen Probleme so zu, dass wesentliche Elemente der Demokratie durch den Faschismus abgeschafft oder substanzlos gemacht wurden wie z. B. die parlamentarische Repräsentation.

Von Mussolini zu Berlusconi

Am Beispiel des italienischen Faschismus zeigt Losurdo die von Linken manchmal unterschätzten Gefahren von Plebisziten, wenn sie als populistischer Ersatz der parlamentarischen Demokratie instrumentalisiert werden. Schon im 19. Jahrhundert wurde versucht, mit der Ersetzung des Verhältniswahlrechts durch das Mehrheitswahlrecht und die Einführung von Einmannwahlkreisen der politischen Bündelung von Interessen verschiedener Teile der Unterschichten entgegenzuwirken. So wurden Minderheiten von der Teilhabe ausgeschlossen und die fatale Tendenz zum Zweiparteiensystem verstärkt. In Frankreich gelang es de Gaulle, diesen Prozeß in Gang zu bringen. In Italien strebt Berlusconi jetzt dasselbe an.

Ein offenes Desiderat an Losurdos Buch ist die fehlende Analyse der historisch verheerenden Wirkung, die die Formalisierung des allgemeinen Wahlrechts zur Wahlfarce im Realsozialismus auf diesen selbst und auf die Entwicklung der Demokratie im Westen hatte. Das wesentliche Urteil wird aber ausgesprochen: Der Realsozialimus ging zugrunde, weil es ihm nicht gelang, den nach 1917 zunächst gerechtfertigten Ausnahmezustand jemals zu beenden. Hinzuzufügen wäre, dass ihm nicht einmal die zeitliche Begrenzung öffentlicher Mandate gelang, die die Bevölkerung als ersten Schritt zu mehr Mitgestaltung verstanden hätte.

Das Manko des Realsozialismus

Freilich ist Losurdo recht zu geben, dass der Realsozialismus im Gegensatz zum Faschismus und auch zu einer Tendenz in den westlichen Demokratien mit der Etablierung stark integrativer Bildungssysteme wesentliche Voraussetzungen weiterführender Emanzipation schuf. Hier wäre an einen wichtigen Strang von Rudolf Bahros »Alternative« zu erinnern. Er zeigte, dass in der DDR nicht nur politisch motivierte, sondern ab den sechziger Jahren auch allgemeine Beschränkungen von Bildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten gesetzt wurden, die die Herrschaft der in den fünfziger Jahren gebildeten administrativen und technischen Eliten objektiv konservierten. Um den Widerspruch zwischen wachsenden Kompetenzen und geringen Möglichkeiten der Mitregierung zu entschärfen, hätte der Weg einer Enthierarchisierung, d. h. größerer Demokratisierung der Arbeitswelt beschritten werden müssen, wie er vielleicht mit dem Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft möglich geworden wäre.

Wenn Losurdos Buch auch keine Strategie sozialistischer Demokratie entwirft, bietet es doch umfassendes Material, um die Dynamik des Demokratietyps zu verstehen, der gegenwärtig die Welt beherrschen will. Geradezu unheimlich sind die wieder steigenden Tendenzen des Bonapartismus, wie sie sich in Gestalten wie Berlusconi und Sarkozy auch innerhalb der EU zeigen. Ob man George W. Bush noch als Soft-Bonapartisten bezeichnen kann, ist fraglich.

Kurzum: Dieses Buch ist im Superwahljahr für Deutschland und Europa als Lektüre eindringlich zu empfehlen.

Domenico Losurdo: Demokratie oder Bonapartismus. Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts. PapyRossa Verlag, Köln. 402 S.,br., 19,90 EUR.

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