Aufstand der Tiger in Russisch-Fernost

In der Region Primorje regt sich Unmut übers ferne Moskau

  • Irina Wolkowa aus Wladiwostok
  • Lesedauer: 6 Min.

»Russland ist groß und der Zar ist weit«, hieß es einst. Das sollte heißen, dass man sich mancherorts wenig um die Zaren-Ukase scherte. Heute allerdings bringen die Gesetze aus Moskau im 9000 Kilometer östlich gelegenen Wladiwostok manchen auf die Barrikade.

Links rumpelt die Hafenbahn über die Gleise, rechterseits legt eine Fähre an. Auf der anderen Seite des schmalen Meeresarms sind ein paar Frachter zu sehen, weißer Rauch steigt aus den Kombüsen. Kein Baum, kein Strauch, kein Café. Nicht einmal Bänke stehen auf der Korabelnaja Nabereshnja, zu Deutsch etwa Straße am Schiffs-ufer. Schön ist sie nicht, die Uferpromenade von Wladiwostok, aber geschichtsträchtig: Hier machte 1859 die »Mandschu« fest, ein Kriegsschiff seiner Majestät des Zaren, das die Bucht am Japanischen Meer, einem Randgewässer des Pazifik, definitiv für Russland in Besitz nahm. Wladiwostok nannten sie die Stadt, die dort ein Jahr später entstand: Beherrsche den Osten.

Die Ururenkel der Stadtgründer schwelgen in der Vergangenheit, denn die Gegenwart liefert wenig Stoff für Ruhmeslegenden. Und nirgendwo ist dies deutlicher sichtbar als auf der Uferstraße. Früher flanierten sie auf der Korabelnaja Nabereshnja, heute protestieren sie dort. Zivilangestellte der Pazifikflotte, ehemalige Offiziere in abgetragenen, mit Orden besetzten Uniformjacken und sogar ein paar aktive, die vorsichtshalber die Montur gegen Zivil vertauscht haben. Immerhin 300 Teilnehmer zählte die Protestkundgebung, zu der am 11. April der Bund der Offiziere und die KP der Russischen Föderation aufgerufen hatten. Zahlen, von denen die Opposition in anderen russischen Großstädten nur träumen kann. Obwohl die Polizei nicht gerade mit Samthandschuhen vorgeht, wenn sie die meist nicht genehmigten Kundgebungen auflöst.

Denn neben sozialer Gerechtigkeit fordern die Teilnehmer immer häufiger und immer lauter den Rücktritt des Ministerpräsidenten. Wladimir Putin, ist zwar ein Petersburger, aus Sicht Bürgerbewegter in Wladiwostok jedoch die Spitze jener Machtvertikale, die im 9000 Kilometer entfernten Moskau Gesetze ausheckt, die für Russlands Randzonen »die blanke Katastrophe sind«, wie Alexander Orbow sagt. Der 32-jährige Computerfachmann gehört zu »Tigr«, einer Jugendorganisation, die sich für Umweltschutz, öffentliche Kontrolle der Macht und eine Zivilgesellschaft einsetzt. Die »Tiger« sind Motor der Protestbewegung in Russisch-Fernost und aus ihr selbst erst im letzten November hervorgegangen.

Nichts zu tun für Peregontschiki

Zunächst ging es bei den Protesten um vergleichsweise geringe Beträge: gegen ein Gesetz, das Autos mit Lenkrad auf der rechten Seite verbieten sollte. In Japan und Südkorea herrscht Linksverkehr und von dort kommen täglich Frachter mit Gebrauchtwagen. Von deren Weiterverkauf lebt in der strukturschwachen Pazifikregion jeder Zehnte, direkt oder indirekt: Händler, Werkstätten, wo die Rostlauben neu aufgemotzt und lackiert werden, und die »Peregontschiki« – Männer, vereinzelt sogar Frauen, die die überholten Japaner in Sibirien und im Ural absetzen.

Das Gesetz gegen die Rechtslenker liegt zwar momentan auf Eis. Doch Ende vergangenen Jahres dachten sich die Moskowiter eine noch größere Gemeinheit aus, wie die Wladiwostoker finden: Einfuhrzölle für gebrauchte Wagen, deren Preise sich dadurch bis zu 30 Prozent verteuerten. Im »Grünen Winkel« – mit über 10 000 Standplätzen der weltweit größte Umschlagplatz für Gebrauchte – sorgte die Absatzkrise bereits für akuten Platzmangel. Denn seit Januar lohnt der weite und nicht ungefährliche Weg nicht mehr. Weder für die Peregontschiki noch für die Staatsbahnen, die bereits entlassen mussten.

Begründet hatte Moskau die Zölle mit der Notwendigkeit des Schutzes der heimischen Autoindustrie. Giganten wie Kamas und Awtowas schalten ihre Fließbänder seit Herbst regelmäßig ab. »Hunderttausend Arbeitslose an der Wolga sind schlimm«, sagt Andrej Dudenok, der Chef der »Tiger«, »aber das ist eine relativ reiche Region, die Moskau allein schon deshalb nicht im Regen stehen lassen wird, weil die Stimmen der Arbeiter bei den nächsten Wahlen gebraucht werden. Wir dagegen …«

Der Kartoffelvorrat geht zur Neige

Mit knapp zehn Millionen Einwohnern ist die Region Primorje vergleichsweise dünn besiedelt. Und steht daher ziemlich weit hinten auf der Prioritätenliste der russischen Regierung beim Krisenmanagement. Sie stand, besser gesagt. Bis zum Skandal um »Russki Wolfram«, dessen Besitzer den Arbeitern den Lohn von inzwischen sieben Monaten schulden. Allein bei den knapp 2000 Einwohnern im acht Autostunden von Wladiwostok entfernten Swetlogorje, wo der Konzern einziger Arbeitgeber ist, steht das Management inzwischen mit fast elf Millionen Rubel – gut einer Viertelmillion Euro – in der Kreide.

»Weil wir nicht zahlen können, hat uns die Wohnungsgesellschaft mitten im Winter das heiße Wasser und damit auch die Heizung abgedreht. Der Laden im Ort weigert sich, weiter anzuschreiben. Unsere Kinder essen daher seit Wochen nur noch Kartoffeln, die Erwachsenen die Schalen. Wir«, so die Gewerkschaftsleitung bei »Russki Wolfram«, die den Hilferuf verfasste und ihn Anfang April den Medien zugespielt hat, »garantieren für nichts mehr. Denn unser Kartoffelvorrat geht auch zur Neige.«

Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft. Die aber konnte bisher nicht einmal feststellen, wem die Wolframgruben eigentlich gehören. Die Eigentümer wechseln ständig. »Konkurrent«, die Wirtschaftszeitung der Region, verortet sie derzeit auf den Seychellen.

Es war eine der bittersten Stunden für Gouverneur Sergej Darkin, als Premier Wladimir Putin ihn Anfang April nach Moskau zitierte und ihm vor laufender Kamera aufgab, seinen Saustall auszumisten. 3000 Rubel pro Nase – knapp 60 Euro – ließ die Regierung den Hungernden in Swetlogorje als Soforthilfe inzwischen anweisen. Zuvor schon waren die »Tiger« mit dem Klingelbeutel in Wladiwostok herumgegangen, hatten Lebensmittel gekauft und sie mit ihren Privatautos nach Swetlogorje geschafft. »Weg des Lebens« heißt dort seither die Straße nach Wladiwostok.

Swetlogorje, glaubt Wladimir Bespalow von der Regionalleitung der KP, habe das Maß von Gouverneur Darkin in den Augen Moskaus wohl definitiv voll gemacht. Denn »Russki Wolfram« ist nicht die einzige Zeitbombe, die am Pazifik tickt. Großartige Projekte für den Gipfel der Pazifikstaaten, der 2012 in Wladiwostok stattfinden soll, existieren bisher nur als Computersimulation; auf dem Gelände, wo ab Juli eine von vier Sonderzonen für Glücksspiele eröffnen soll, sind bisher nicht einmal Planierraupen zu Gange, geschweige denn Kräne. Das Trottoir in Wladiwostok erzieht zur Demut: Wer nicht ständig vor die eigenen Füße guckt, tritt in Löcher oder in mangelhaft abgedeckte Gullys. Einerseits.

Andererseits gehört Primorje zu jenen Regionen, in denen Präsident Dmitri Medwedjew besonders dringenden Handlungsbedarf bei der Korruptionsbekämpfung sah. Ermittler hatten sich daher schon im letzten Juli in den Amtsräumen des Gouverneurs umgesehen, gegen zwei seiner Stellvertreter läuft ein Verfahren, der vor zwei Jahren wegen Vergehen im Amt abgesetzte Bürgermeister von Wladiwostok sitzt inzwischen.

Übernimmt in Primorje ein neuer Gouverneur, fürchtet Natalja Subarewitsch vom Institut für Sozialpolitik, könnten die Menschen dort vom Regen in die Traufe kommen: »Seit die Provinzfürsten nicht mehr direkt gewählt, sondern vom Kreml ernannt, werden, sehen sie in dem Amt vor allem eine Sprosse, um weiter nach oben zu steigen. Sorgen und Nöte der Bevölkerung rangieren für sie unter fernen liefen.«

Furcht vor neuem Langen Marsch

Die Menschen stimmen daher mit den Füßen ab. Die Einwohnerzahlen in Primorje und den anderen Regionen im Fernen Osten sind seit Jahren rückläufig. Unfreiwillig leistet Moskau daher dem Vorschub, was die Wladiwostoker als neuen Langen Marsch bezeichnen: der schleichenden Invasion Chinas, das 150 Kilometer weiter südlich beginnt. Schon jetzt kontrollieren Chinesen die Großmärkte, eröffnen reihenweise Restaurants, Nachtklubs, Spielhöllen. Bis zu drei Millionen, so schätzen örtliche Experten, sitzen in Harbin und den anderen Großstädten im Nordosten Chinas in den Startlöchern zum Sprung über die durchlässige Grenze. Karikaturisten malen die Zukunft von Primorje bereits in den schwärzesten Farben: als mehr oder minder unterentwickelte Provinz Chinas.

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