Alltäglich widernatürlich

  • Brigitte Zimmermann
  • Lesedauer: 3 Min.
Alltäglich widernatürlich

Zu den schrägen Erscheinungen unseres Lebens gehört die schon fast unerträgliche Widernatürlichkeit des Seins. Den meisten allerdings wird sie kaum noch bewusst. Man kann die Künstlichkeit im Kleinen wie im Großen feststellen. Ein paar der weniger gewichtigen Absurditäten: Bunte Ostereier, einstens ein Privileg des Frühjahrs, gibt es jetzt das ganze Jahr. Deutsche Meisterschaften im Biathlon und Skispringen, zwei eindeutigen Winterdisziplinen, finden im Spätsommer oder Frühherbst statt, auf Rollen bzw. einer Mattenschanze. Und das nicht, weil man zu wenig Schnee befürchtet. Sondern weil sich in den kommerziell durchgestylten Terminkalendern der Saison kein Platz mehr für nationale Titelkämpfe findet.

Es walten heute auch keinerlei Bedenken mehr, Gebäude ohne Fenster zu bauen, teilweise mitten in der Stadt. Kaufhäuser beispielsweise. Die Bürger von Schilda, denen dieses Unglück beim Bau ihres Rathauses unterlaufen sein soll, waren ihrer Zeit offenbar nur voraus. Von unserer häufig über den Bedarf hinaus produzierten Warenwelt wird natürliches Licht jedenfalls mit Selbstverständlichkeit fern gehalten.

Die höchste Form der Denaturierung ist allerdings die Abwendung des Menschen von sich selbst und seinen ursprünglichen Antrieben und Intentionen. Sie wird am deutlichsten an der Existenz zahlreicher Auftritts- und Verhaltenstrainer, neudeutsch Coaches. Für Erwachsene und für jedes Thema. Nicht zuletzt ihren Maßgaben für Anbiederei, Schaustellung und persönliche Gewinnmaximierung verdanken wir, dass die Leute einander nur noch selten in ihrer natürlichen Verfasstheit gegenübertreten. Sondern irgendwie abgerichtet. Dann schleudern sie auch dem nervigsten Kunden »Einen schönen Tag noch« hinterher oder sagen bei Gesprächen Sprüche auf, als würden sie ständig auf deren Texttreue abgehört.

Wem Schulungspersonal für Wohlverhalten nicht aufgezwungen wird bzw. wer es sich nicht leisten kann oder will, dem fällt beim großen Rollenspiel in dieser Gesellschaft oft nur noch das Fach »echte Menschen« zu. Dieser Ausdruck taucht neuerdings tatsächlich immer wieder auf. »Echte Menschen« erfreuen sich auch bei den regelsicheren und für jede Erwartungshaltung bestens orientierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern eines gewissen Zuspruchs. Aus der Distanz natürlich. Denn die Bühnenreifen in dieser Gesellschaft würden niemals bei »Deutschland sucht den Superstar« ihr ganzes Untalent zur Schau stellen oder bei »Big Bro-ther« das alltägliche Scheitern an der banalen Seite des Lebens vorführen.

Aber man schätzt es, das Ganze aus der Zooperspektive zu betrachten. Verdrehte Welt. Das Natürliche wird zum Abenteuer und zur großen Unterhaltung, normal ist unterdessen das Aufgeführte, die abgefeimte Selbstdarstellung, die Untalent, Schwäche und notfalls sogar soziale Not kaschieren oder unkenntlich machen. Auf dem Theater, wo sie manchmal im kleinen Finger mehr Sinn für gesellschaftliche Verwerfungen haben als die gesamte politische Kaste zusammen, wissen sie schon länger: Mit der Kunst des Schauspiels ist gegen das Rollenspiel des Lebens nur noch schwer anzukommen. Deshalb treten dort immer öfter »echte Menschen« auf, Chöre von Arbeitslosen und Obdachlosen, um der Realität eine Gasse zu öffnen in der großen Inszenierung des Daseins, bei der so viele mitwirken.

»Echte Menschen« hingegen können mit den gelackten und geschulten Aufsagern, auch denen in Presse, Funk und Fernsehen, überhaupt nichts anfangen. Wenn beispielsweise der CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla auf dem Schirm auftaucht, möchte man immer erstmal anfassen dürfen und prüfen, ob er nicht gerade aus dem neuen Berliner Wachsfigurenkabinett dahin gestellt worden ist. Seine Sätze klingen, als würde eine leiernde alte Platte abgespielt. Er redet dann vom Ziel der CDU, »ein freies Leben in der Chancengesellschaft« zu ermöglichen. Was bitte? Versuchen kann man's ja. Aber bitte gekonnt verstellt.

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