Ein Kritiker Gramscis

Texte von Christian Riechers im Unrast-Verlag

  • Gerhard Hanloser
  • Lesedauer: 3 Min.

Nach Textsammlungen des Rätekommunisten Cajo Brendel und der Philosophin der Arbeiterklassen-Spontaneität Raya Dunayevskaya erinnert nun ein weiterer Band an einen »Dissidenten der Arbeiterwegung«, so nennt sich die Reihe im Münsteraner Unrast-Verlag: an den Historiker und 68er Christian Riechers (1936-1993). Der Schüler des Rätekommunisten Willy Huhn leitete von 1971 bis zu seinem frühen Tod das »Projekt Arbeiterbewegung« an der Universität Hannover.

»Die Niederlage in der Niederlage. Texte zu Arbeiterbewegung, Klassenkampf, Faschismus« heißt das 500 Seiten dicke Buch. Der Titel klingt nach 70er Jahre, doch davon sollte man sich nicht abschrecken lassen. Das Buch spricht nämlich auch die heutige theoretisch und historisch interessierte Linke an. Denn die Texte Riechers leisten mehreres: Sie führen ein in die turbulente Klassenkampfgeschichte Italiens und präsentieren einen verstörenden Blick auf den historischen Antifaschismus. Faschismus, womit zunächst der italienische gemeint ist, analysiert Riechers als Ergebnis eines verloren gegangenen – und verloren gegebenen Klassenkampfes.

Spott für eine Ikone

Außerdem dekonstruiert die Sammlung eine Ikone der Neuesten Linken: Antonio Gramsci. Christian Riechers gilt zu Recht als »Pionier der Gramsci-Übersetzung« (Wolfgang Fritz Haug). Und dieser Gramsci-Kenner ist gleichzeitig einer der schärfsten Kritiker des Theoretikers der Kommunistischen Partei Italiens. Für Riechers war Gramsci eher ein stark national geprägter Gründervater realsozialistischer Ideologie denn ihr Überwinder. Dessen »Rückübersetzung des Marxismus ins nationale Kulturerbe« habe nichts Schöpferisches an sich, sondern verleugne den vor allem internationalistischen Rahmen des Marxismus. Anfang der 90er Jahre konnte Riechers nur noch Spott aufbringen für die »Zivilgesellschaftsphraseologie« und die »weltweite Gramsci-Ökumene, die von Trotzkisten und Altstalinoleninisten auf der Linken über ein stark besetztes demokratisches Mittelfeld bis hin zur Neuen Rechten sich erstreckt«.

Dutschkes Tagebuch

Riechers entstammte der Außerparlamentarischen Linken der 60er Jahre, war jedoch eher strikt kommunistisch als »anti-autoritär«. Er verteidigte gegen den Räte- und Spontanitätsenthusiasmus der Neuen Linken die Idee der revolutionären Partei. Dutschke notierte am 16. Juli 1967 in sein Tagebuch ein Gespräch mit Riechers, wonach die Parteifrage von der APO nicht vorschnell als erledigt angesehen werden sollte. Tatsächlich orientierte sich Riechers sehr stark an den Schriften des KPI-Gründers Amadeo Bordiga, der in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Gegenspieler Gramscis wurde. Weder macht Riechers jedoch den Bordiga-Kult bizarrer Splittergruppen mit, noch schließt er sich dem Mainstream an, in dem Bordiga bloß als halsstarriger Dogmatiker vorkommt. Von Riechers Weigerung, sich korrumpieren zu lassen, geht bis heute eine Faszination aus.

Christian Riechers: Die Niederlage in der Niederlage. Texte zu Arbeiterbewegung, Klassenkampf, Faschismus. Dissidenten der Arbeiterbewegung, Band 1, herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Felix Klopotek, Unrast Verlag, Münster 2009, 576 Seiten, 28 Euro.

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