Die Gefahr des Feinsinns

Ein Kapitel Genetik der Bundesrepublik

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Es gehört zum Los der Intellektuellen, von der Gesellschaft nicht immer verstanden zu werden. Isolation, die daraus entsteht, ist erträglich. Aber wenn man selber die Gesellschaft, also: die Menschen, nicht mehr versteht – was ist mit dieser Art der Isolation?

Mit Reichen könne man sich nicht über Armut unterhalten, sagt der Dramatiker Rolf Hochhuth. Wie steht es um die Verständigung zwischen der politischen Klasse und einer in die Verunsicherung treibenden mittleren Masse? In Zeiten von Sozialstaatsdemontage, der Verwahrlosung des Freiheitsbegriffs in Richtung ungehemmter Egoismen, der Beschneidung von demokratischen Rechten. Es droht die Aufkündigung eines traditionellen Sicherungsgefüges – das ja nicht willkürlichen Vereinbarungen entsprang, sondern das hart umkämpfte Resultat eines fast jahrhundertlangen Ringens gegensätzlichster Kräfte war. Was jetzt drängender denn je im Zentrum der Gesellschaft klopft, das Glückfressende, Zuversicht Raubende – wird es den Widerstand einer geistgestützten Opposition spüren? Wird das Feld der erwartbaren Sozialproteste auch das Feld der Intellektuellen sein?

Inspiriert werde ich zu dieser Frage durch Wiederlektüre des Buches »Die Welt der Westdeutschen« von Günter Gaus. Geschrieben 1986! Der Publizist stellt damals schon fest: Die wahrhaft sozial-politische Akzentsetzung durch die Sozialdemokratie habe für den Schwachen, den Unterprivilegierten damals nicht wenig bedeutet. »Aber viele meinesgleichen haben wegen dieses graduellen Unterschieds im sozialen Akzent über ein halbes Leben lang die Wahrheit über das System verdrängt oder halbherzige Antworten hingenommen«.

Von diesem Verdacht der Halbherzigkeit im sozial-politischen Denken bundesdeutscher Elite leitet Gaus Fragen an die intellektuelle Opposition ab. Über lange Zeit sei die »neue Innerlichkeit, der Feinsinn« in einer Weise kommod geworden, die eine »resigniert-hochmütige Entfernung von der Politik und ihrer Tendenz ins Gröbliche« veranlasst habe.

Die Ruhe, mit der gegenwärtig das Zerreißen der Sozialsysteme beobachtet, der Mut zur politischen Fantasie verabschiedet wird – hat dies alles nicht mit dem zu tun, was Gaus in der langen Geschichte der Bundesrepublik geradezu genetisch verankert sieht? Er meint, die geistige Opposition kenne untere soziale Schichten doch seit jeher nur als literarische Figur. Sehr wenig habe man prinzipiell im Sinn gehabt mit konkreten »Arbeiterproblemen, Gewerkschaftsfragen«. Ein stolzer Frontgeist, inspiriert durchs Wirtschaftswunder, bestärkt durch die unfreiheitlichen, uncharmanten Zustände im Osten, hätten in der Bundesrepublik »mehrheitliche geistige Selbstbeschränkungen« hervorgerufen, so sei auch in Westdeutschland »der öffentliche Raum der Gesellschaft eine einzige große Nische des Unpolitischen« geworden.

Folgt man dem, so resultiert die gegenwärtige Lethargie des Politischen also auch aus großem Unverständnis und machtvoll eingegrabenem Desinteresse zwischen Begünstigten und Unterprivilegierten. Man kennt einander nicht. Verstehe ich Gaus richtig, so sind seine (selbst!-)kritischen Fragen an die geistig-politische Opposition ein Vorwurf, der leider noch immer gilt: sich nicht wirklich beizeiten und beständig dafür eingesetzt zu haben, dass es US-amerikanischen Verhältnissen in Deutschland schwerer gemacht wird, als dies nun den Anschein hat.

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