»Die Schuld trägt Herr Zörgiebel«

Die Misere der Sozialdemokratie in der Großen Koalition vor 80 Jahren

  • Heinz Niemann
  • Lesedauer: 10 Min.
Polizisten jagen am 1. Mai 1929 demonstrierende Arbeiter und Arbeitslose
Polizisten jagen am 1. Mai 1929 demonstrierende Arbeiter und Arbeitslose

Die Erwartungen waren enorm gewesen, als die SPD nach ihrem großen Sieg bei den Reichstagswahlen im Mai 1928, durch den sie mit 152 Mandaten zur stärksten Fraktion seit 1920 wurde und nach zwölf bürgerlichen Regierungschefs erstmals wieder mit Hermann Müller den Reichskanzler stellte. Im größten deutschen Land, in Preußen, hatte sie zudem mit 229 Sitzen (von 450) sogar die absolute Mehrheit gewonnen. Aber in beiden Fällen, in Preußen wie im Reich, wurden Regierungen der Großen Koalition mit starker Repräsentanz der großbürgerlichen Parteien gebildet.

Die großen Hoffnungen wurden enttäuscht. Empörung löste vor allem der Bruch eines Wahlversprechens aus. Die wahrscheinlich die Wahl entscheidende Losung »Kinderspeisung statt Panzerkreuzer« wurde nicht eingelöst. Statt Geld für Kinderspeisung und andere versprochene soziale Leistungen gab es Steuergeschenke an die kriselnde Wirtschaft und Drohgebärden gegen streikende Arbeiter und rebellierende Arbeitslose. Die Zustimmung der sozialdemokratischen Minister zum weiteren Bau von Panzerkreuzern wurde mit einem parlamentarischen Schmie-rentheater kaschiert: Trotz Zustimmung ihrer Minister stimmte die SPD-Reichstagsfraktion dagegen – nachdem klar war, dass es auf jeden Fall eine Mehrheit im Reichstag fgeben würde.

Die gesamte innenpolitische Situation verschlechterte sich. Irgendwie spürten immer mehr Menschen, dass die »Goldenen Zwanziger« zu Ende gingen. Vielerorts kam es zu Zusammenstößen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, die sich gegenseitig die Schuld an der Entwicklung gaben. Die von ihrer Wahlschlappe 1928 tief getroffenen Nazis (sie hatten fast 100 000 Stimmen gegenüber der vorausgegangenen Wahl im Dezember 1924 verloren) versuchten durch aggressives Verhalten in der Öffentlichkeit Stärke zu demonstrieren. Die Zahl der SA-Überfälle auf kommunistische Versammlungen und Angriffe auf Funktionäre der KPD nahm rasant zu; es kam zu zahlreichen Verletzten und Toten auf beiden Seiten.

Die SPD bemühte sich, ihren bürgerlichen Koalitionspartnern Zuverlässigkeit zu demonstrieren, vor allem dem in seiner Deutschen Volkspaprtei (DVP) von rechtskonservativen Kräften bedrängten Außenminister Gustav Stresemann, der im Unterschied zu rüstungsindustriellen Kreisen an der Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie unbedingt festhalten wollte. Aus diesem Grund verbot der sozialdemokratische Berliner Polizeipräsident Karl Friedrich Zörgiebel am 13. Dezember 1928 alle Demonstrationen unter freiem Himmel. Sein Genosse, der preußische Innenminister Albert Grzesinski, drohte im März gar ein landesweites Verbot an. Man werde gegen die radikalen Organisationen »mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln rücksichtslos einschreiten«. Derart von höherer Stelle ermutigt, entschloss sich Zörgiebel, sein Demonstrationsverbot auch für den 1. Mai 1929 aufrecht zu erhalten, was in keiner anderen Großstadt, nicht einmal in München, gewagt wurde. Die sozialdemokratische Führung wollte offenbar in der Hauptstadt Durchsetzungsfähigkeit beweisen und zugleich angesichts der heftigen propagandistischen Angriffe seitens der Kommunisten ein Exempel statuieren. In der Presse und in diversen Reden wurde der KPD unterstellt, ein Blutbad anzetteln zu wollen. Die Verschärfung des Kampfes gegen die Kommunisten diente indes einzig dazu, die durch die Panzerkreuzer-Bau und durch den vom Parteivorstand vorgelegten Wehrprogramm-Entwurf ausgelöste innerparteiliche Krise abzufangen. In seiner Rede vor dem Magdeburger Parteitag am 26. Mai verriet der SPD-Vorsitzende Otto Wels die Hintergründe für dieses Szenario. Weil »das parlamentarische System eine schwierige Zeit durchmacht« und »faschistische oder bolschewistische Diktaturen« entstanden seien, müsse man »ganz besonders verantwortungsbewusst handeln ... Gelänge es den Feinden der Republik, der Demokratie in Deutschland schweren Schaden zuzufügen, dass einmal kein anderer Ausweg bliebe als Diktatur, dann, Parteigenossen, sollen Stahlhelm, sollen Nationalsozialisten, sollen ihre kommunistischen Brüder von Moskau das eine wissen: die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften ... würden trotz ihrer demokratischen Grundeinstellung die D i k t a t u r zu handhaben wissen.« Wels erntete lebhaften Beifall.

Die gewaltsame Durchsetzung des Demonstrationsverbots am 1. Mai sollte den Willen, die »Diktatur zu handhaben«, demonstrieren. Wie erwartet rief das überparteiliche, wenn auch von den Kommunisten dominierte Großberliner Mai-Komitee trotzdem dazu auf, am traditionellen Kampftag des Proletariats die Arbeit ruhen zu lassen: »Rote Fahnen heraus! Straße frei für die Massendemonstration!« Sich das verfassungsmäßig garantierte Demonstrationsrecht, noch dazu am traditionellen internationalen Kampftag der Arbeiterklasse ausgerechnet in der Reichshauptstadt nehmen zu lassen, wollte und konnte man nicht hinnehmen.

Als sich dann am Morgen des 1. Mai 1929 mehrere friedliche Demonstrationszüge formierten, begannen sogleich die Attacken der Polizei. Trotz massiven Einsatzes der Gummiknüppel und Reiterstaffeln gelang es nicht, sie aufzulösen. Immer wieder, bis in die Abendstunden, sammelten sich neue Marschkolonnen und Gruppen, die nun von der Polizei – die Carl von Ossietzky in der »Weltbühne« als »verhetzte, wildgemachte Bürgerkriegstruppe« charakterisierte – mit scharfer Munition aus Gewehren, MG's und Panzerwagen beschossen wurden. Selbst in den Hochburgen der KPD, in Neukölln und dem »roten Wedding«, wo einzelne Straßen mit Barrikaden gesperrt wurden und vor allem Jugendliche mit Steinen und Blumentöpfen die vorrückenden Polizeikräfte bewarfen, wurde nur ein Polizist verletzt. Dagegen gab es 31 Tote, 194 Verletzte und 1228 Verhaftete auf Seiten der Demonstranten.

Größere Opfer waren verhindert worden, weil aus dem Karl-Liebknecht-Haus, dem Sitz des ZK der KPD, mehrere Emissäre, darunter der Parteivorsitzende Ernst Thälmann persönlich sich zu den umkämpften Straßen durchschlugen und die Einstellung des sinnlosen Widerstands durchsetzten. Selbst der Berichterstatter der großbürgerlichen »Frankfurter Zeitung« fand, das Verhalten der Polizei sei »von der militärischen Einstellung beherrscht gewesen, es mit einem schlechthin als Feind zu behandelnden Gegner zu tun zu haben«.

Die Maßlosigkeit der Stellungnahmen der sozialdemokratischen Parteispitze an den Folgetagen widerspiegelte ein erhebliches Schuldbewusstsein und die Sorge vor Protesten in der eigenen Anhängerschaft. Die Kommunisten hätten die Toten in Berlin kaltblütig einkalkuliert, erklärte der Partei- und Fraktionsvorstand am 3. Mai, weil sie die Sozialdemokraten wieder einmal zu »Bluthunden« abstempeln wollten. »Darum musste das Lumpenproletariat mobil gemacht werden, das den Hauptteil der Kämpfe gegen die Polizei geleistet hat. Die Toten und Verletzten sind für die Kommunisten Agitationsmaterial und nichts anderes. Die Opfer sind auf Befehl der kommunistischen Zentrale gefallen! Das ist die Wahrheit!« Abschließend hieß es: »Nieder mit den kommunistischen Schädlingen der Arbeiterbewegung! Vorwärts und aufwärts mit und in der Sozialdemokratie!«

Die kommunistische Presse zahlte mit gleicher Münze heim. »Zörgiebels Blutmai, der Blutmai der Sozialdemokratie – das ist der Auftakt für die faschistischen Diktaturpläne der Bourgeoisie und Sozialdemokratie.« Im Reichstag forderte Wilhelm Pieck in der Sitzung am 2. Mai die Bestrafung der Schuldigen, insbesondere müsse der »Mordkerl Zörgiebel« aus dem Amt gejagt werden. Da dies abgelehnt wurde, verließen die kommunistischen Abgeordneten – nach dem Gesang der »Internationale« – den Plenarsaal mit dem Ruf: »Nieder mit den Mördern!« Die folgende Erklärung des ZK der KPD verkündete: »Wenn es nach dem Willen der Zörgiebel, Grzesinski, der Hermann Müller und Severing geht, nach dem Willen der Mörderpartei geht, sollen weiter Arbeiter niedergemetzelt werden ... Nieder mit der Sozialdemokratie, der blutbefleckten Mörderpartei! »

Der Graben zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten konnte kaum tiefer werden. Die Nazis waren die lachenden Dritten. In den folgenden Monaten konnten sie bei Kommunal- und Landtagswahlen deutliche Gewinne erzielen, ein Trend, der sich angesichts der Zerstrittenheit von Sozialdemokraten und Kommunisten bei weiterer Verschärfung der Krise fortsetzte.

Für die KPD, durch die Beschlüsse des VI. Weltkongresses der Komintern 1928 auf einen verschärften linksradikalen Kurs festgelegt, war der »Blutmai« eine letzte Bestätigung der Stalinschen »Sozialfaschismusthese«, die als Träger der reaktionären Entwicklung einerseits die Nazis und andererseits die rechte Sozialdemokratie als »Zwillingsbrüder« bestimmte. Da die sozialdemokratisch geführte preußische Regierung am 3. Mai mit Verboten gegen den Roten Frontkämpferbund, der Roten Jungfront und der Roten Marine sowie gegen das Parteiblatt »Rote Fahne« (sie durfte bis zum 22. Juni nicht erscheinen) vorging, war die erstrebte antifaschistische Einheitsfront chancenlos. Linke Sozialdemokraten wie Dr. Kurt Rosenfeld oder der Jurist Hugo Sinzheimer, die das Verhalten der Berliner Polizei und die Verbote kritisierten, konnten daran ebensowenig ändern wie Mahner innerhalb der KPD.

Das von Severing am 6. Mai 1929 für das ganze Reich erlassene KPD-Verbot wurde unter Ausübung von Druck auf einige zögernde Landesregierungen wie in Hessen (mit dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Albert Adelung und SPD-Innenminister Wilhelm Leuschner) durchgesetzt. Gegen die renitenten Regierungen in Baden und in Braunschweig (wo die SPD mit 24 Abgeordneten die stärkste Landtagsfraktion stellte und Otto Grotewohl Bezirksvorsitzender war) setzte Severing das Verbot am 15. Mai eigenmächtig in Kraft. Das »Republikschutzgesetz« wurde ausschließlich gegen links angewandt.

Der Blutmai widerspiegelte, wie der verstärkte Rechtskurs der Deutsch Nationalen Volkspartei (DNVP) unter ihrem neuen Vorsitzenden Alfred Hugenberg und der Zentrumspartei unter deren neuem Vorsitzenden Prälat Ludwig Kaas, vorangetrieben wurde und die maßgeblichen Repräsentanten der SPD mit völlig ungeeigneten und erfolglosen taktischen Winkelzügen gegenzusteuern versuchten. Die unmittelbare Folge war, dass die Kluft zwischen einfachen Sozialdemokraten, die weiterhin – wenn auch oft verbittert, unwillig, aber ratlos – ihren Führern folgten, und den Kommunisten sich noch mehr vertiefte. Viele kommunistischen Arbeiter erwarteten voller Ungeduld, dass sich ihre sozialdemokratischen Klassengenossen nun endgültig von dem »Arbeitermörder Zörgiebel« und den übrigen »Arbeiterverrätern« in der Regierung und den Vorständen der SPD und des ADGB trennten. Soweit dies nicht geschah, schürte es den Hass und provozierte neue gegenseitige Attacken. »Schlagt die kleinen Zörgiebels, wo ihr sie trefft«, hieß es bei den Kommunisten, die von rechten Sozialdemokraten im Gegenzug als »rotlackierte Nazis« tiutuliert wurden. Damit wurde jene Kraft geschwächt, die allein imstande gewesen wäre, der sich formierenden Reaktion Paroli zu bieten.

Das behinderte auch das Bestreben der KPD-Führung, das Bündnis mit nichtproletarischen Kräften und Schichten, insbesondere der fortschrittlichen Intelligenz und Künstlerschaft zu verbreitern. Allerdings gelang es der KPD, aus diesen Kreisen einen überparteilichen »Ausschuß zur Untersuchung der Berliner Mai-Vorgänge« zu organisieren, dem u. a. Alfred Döblin, Carl von Ossietzky, Herbert Walden und andere Prominente angehörten. In öffentlichen Versammlungen wurden Hunderte von Zeugen vernommen. Im Abschlussbericht, den der Wirtschaftswissenschaftler Alfons Goldschmidt am 6. Juni 1929 gab, zitierte dieser die »Rote Fahne« vom Vortag des 1. Mai, die einen speziell an die Polizeibeamten gerichteten Aufruf veröffentlicht hatte: »Wir, die Kommunisten, sagen euch, den Beamten, daß die klassenbewussten Arbeiter, die morgen unter den Fahnen der Kommunistischen Partei auf die Straße gehen werden, kein Interesse an Zusammenstößen haben; darum werden sie unbewaffnet marschieren; an euch ist es, zu zeigen, dass auch ihr keine willenslosen Instrumente der Offiziere seid ... Schießt nicht!« Damit hatte die KPD-Führung nachdrücklich die martialischen Äußerungen einiger regionaler Funktionäre revidiert, die von der SPD ausgiebig zitiert worden sind.

Im Bericht des Untersuchungsausschusses hieß es dann: »Es ist nicht der geringste Beweis erbracht worden, nicht in all dem Material und den Informationen, die wir bekommen haben, dass die Ursachen der Zusammenstöße auf seiten der Kommunistischen Partei zu suchen wären ... Das Verbot der Straßendemonstration am 1. Mai war tatsächlich weder in dem proletarischen Brauch noch in dem Wesen der Verfassung begründet. Die Kommunistische Partei hat keine Toten gewollt und hat die Arbeiterschaft nicht bewaffnet für Zusammenstöße. Die Kommunistische Partei ist also nicht die Schuldige für die Toten am 1. Mai. Das ist unsere feste und freie Überzeugung, und deshalb müssen wir vom Ursachenausschuß die Schuld an diesen Unmenschlichkeiten des furchtbaren Blutmai 1929 Herrn Zörgiebel zuschieben.«

Als knapp fünf Monate später die Weltwirtschaftskrise ausbrach, traf sie auf eine tief zerstrittene Linke, deren Führungen unfähig waren, zu einer gemeinsamen und rechtzeitigen Abwehr zu finden.

Wie tief sich die Folgen des Berliner »Blutmai« im historischen Gedächtnis auch führender Sozialdemokraten eingeprägt haben, zeigte die Arbeit Otto Grotewohls aus dem Jahre 1948 zum 30. Jahrestag der Novemberrevolution, in der er neben anderen schwerwiegenden Ereignissen den Berliner 1. Mai 1929 ausdrücklich zu »den schweren Schlägen gegen den Willen zur Einigung« aufzählte.

Von unserem Autor Prof. Heinz Niemann erschien im vergangenen Jahr im Verlag Edition Ost eine »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie 1914-1945«.

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