Tückische Prozentzahlen

Berlin: Harding-Zentrum für Risikokompetenz will Blick für Statistiken schärfen

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 3 Min.

Erdbeben, Kriminalität, Krankheiten – die Welt ist voller Gefahren. Doch wie groß diese tatsächlich sind, ist oft schwer einzuschätzen. So kann es leicht sein, dass ein Großstädter spontan das Risiko, Opfer eines Verbrechens zu werden für höher hält als das, überfahren zu werden, obwohl es wenigstens hier zu Lande umgekehrt ist. Doch selbst dann, wenn einem ausgewiesene Experten genaue Angaben zu Risiken machen, sind die meisten Menschen mit den angegebenen Prozentzahlen überfordert. Denn oftmals werden relative Risiken angegeben um bestimmte Absichten zu unterstützen. So gibt die Deutsche Krebshilfe an, dass das Brustkrebs-Screening die Sterblichkeit an der Krankheit um beachtliche 25 Prozent senkt, um die Bereitschaft zur Krebsvorsorge zu erhöhen. Tatsächlich senkt das Screening die Sterblichkeit, aber wie Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin sagt, sterben absolut nur ein bis zwei von 1000 Frauen weniger.

Der Psychologe hatte seine Erkenntnisse über den richtigen Umgang mit Angaben über Risiken vor Jahren in dem Buch »Das Einmaleins der Skepsis« aufgeschrieben. Das Buch und eine Begegnung mit Gigerenzer brachte den britischen Investmentbankier David Harding auf die Idee, ein Zentrum zu gründen, in dem der Umgang der Menschen mit Risiken sowohl erforscht als auch gelehrt werden soll. Das mit Hilfe seiner 1,5-Millionen-Euro-Spende in Berlin gegründete Harding Center for Risk Literacy (Harding-Zentrum für Risikokompetenz) stellte seine Arbeit in dieser Woche der Öffentlichkeit vor. Schwerpunkte der Forschung des neuen Einrichtung werden Gesundheit und Medizin sowie der Bildungssektor sein, sagt der leitende Wissenschaftler des Zentrums, der Psychologe Wolfgang Gaissmaier.

Gigerenzer sieht ein wesentliches Versäumnis der Schule darin, dass sie den Umgang mit Wahrscheinlichkeiten allenfalls so abstrakt lehrt, dass selbst Abiturienten und Hochschulabsolventen an der praktischen Beurteilung von Risiken scheitern. Gaissmaier spitzte dieses Urteil noch dahin zu, dass man diesen Unterricht vermutlich erst einmal den Mathematikern aus der Hand nehmen müsste, um ihn erfolgreich zu reformieren.

Für Gigerenzer liegt das Problem allerdings tiefer. Zum einen ist eine transparente Risiko-Nutzen-Abschätzung oft nicht im Interesse jener Akteure, die über die nötigen Daten verfügen – seien es Unternehmen oder Politiker –, zum anderen glaubt er, dass sich der in der deutschen Gesellschaft vorherrschende Paternalismus mit Transparenz schwer tut. Die Gesellschaft müsse weg von der Illusion der Sicherheit. Die Welt sei nun einmal voller Risiken, mit denen man sich arrangieren muss. Welche Auswüchse dieser falsche Sicherheitsglaube hat, illustriert Gigerenzer mit den Reaktionen der Politik nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001. Die hätten zwar den Bürgern das Leben erschwert, doch es gebe bis heute keine Bilanz, welche Anschläge durch die zusätzlichen Kontrollen und Überwachungsmaßnahmen tatsächlich verhindert und wie viele Terroristen dadurch gefasst wurden. Transparenz könne zudem das angeschlagene Vertrauen der Bürger zurückbringen. So gelte den Briten heute die Bank von England als vertrauenswürdigste Institution nach der Königin, nur weil sie bei ihren Wachstumsprognosen grundsätzlich mit Von-bis-Spannen operiert und die Diskussion im Vorfeld mitpubliziert.

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