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Physik aus der Maschine

Ein Computer hat zum ersten Mal eigenständig ein Naturgesetz entdeckt

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

»Man kann einen Rechner mit einer Milliarde Anweisungen speisen, und dennoch wird er niemals zu jenen Wahrheiten vorstoßen, die menschliche Gehirne aushecken.« Kurz nachdem der US-Mathematiker Michael Macrone diesen pessimistischen Satz 1996 niedergeschrieben hatte, gewann der IBM-Computer »Deep Blue« erstmals eine Partie gegen den damaligen Schachweltmeister Garri Kasparow, der ein Jahr später sogar einen Wettkampf gegen die Maschine verlor.

Die Fachwelt war beeindruckt, aber nicht fassungslos. Denn Schach ist ein Spiel, bei dem sich jede Position der Figuren eindeutig aus formalen Regeln ableiten lässt. Zwar vollbrachte »Deep Blue« das Kunststück, in einer Sekunde rund 200 Millionen Züge zu kalkulieren, was kein menschliches Gehirn vermag. Andererseits sind Schachcomputer weder lernfähig noch eigenständig kreativ, so dass man ihnen, wenn überhaupt, nur eine sehr eingeschränkte Intelligenz wird zubilligen können.

Intelligent und höchst kreativ war hingegen der britische Naturforscher Isaac Newton, der einen Apfel vom Baum fallen sah und daraus auf das Gesetz der Gravitation schloss. Sagt zumindest die Legende. Wenn man überdies bedenkt, dass der Mensch als Wissenschaftler Jahrhunderte brauchte, um zu dieser bahnbrechenden Entdeckung zu gelangen, erscheint die Annahme, ein Computer könne Ähnliches leisten, mehr als vermessen. Dennoch haben Hod Lipson und Michael Schmidt von der Cornell University (USA) einen solchen Versuch jetzt gewagt. Das heißt, sie haben ein Computerprogramm entwickelt, dessen Aufgabe darin besteht, eigenständig die Gesetze der klassischen Mechanik aufzuspüren.

Als Eingangsdaten für ihre Newton-Maschine wählten die Forscher die mechanischen Parameter eines einfachen sowie eines Doppelpendels. Daraus erzeugte der Computer per Zufall Formeln zur Beschreibung der Pendelbewegung und überprüfte, wie gut sich damit die mechanischen Daten reproduzieren ließen. Um die Formeln weiter zu optimieren, nutzte die Maschine einen aus der Biologie bekannten Mechanismus der Evolution: Sie sonderte die »schlechten« Formeln aus und ließ nur die tauglichen bestehen. Diese wurden anschließend leicht verändert und einer erneuten Prüfung unterzogen.

Schon nach wenigen Minuten hatte die Maschine die lineare Bewegung des einfachen Pendels soweit erfasst, dass sie die erzeugten Formeln nicht weiter veränderte. Beim Doppelpendel, das bekanntlich ein nichtlineares chaotisches System darstellt, war die Lösung nach über 30 Stunden gefunden, berichten Lipson und Schmidt im US-Fachzeitschrift »Science« (Bd. 324, S. 81ff.). Beim Blick auf die Ergebnisse sahen die beiden Forscher ihre kühnsten Erwartungen bestätigt. Denn das Computerprogramm war ausgehend von der zeitlichen Veränderung der Orte und Geschwindigkeiten unter anderem auf den Lagrange-Formalismus gestoßen, den auch Physiker verwenden, um mechanische Systeme zu beschreiben. Wurden dem Computer überdies Daten zur Beschleunigung beigegeben, generierte er das zweite Newtonsche Bewegungsgesetz, welches in seiner Kurzform lautet: Kraft ist Masse mal Beschleunigung.

In einem zweiten Schritt fütterten die Forscher ihre Maschine mit den Ergebnissen, die diese zuvor bei der Lösung des einfachen Pendelproblems ermittelt hatte. Die Berechnung des Doppelpendels erfolgte nun erheblich schneller. Waren dafür anfangs 30 Stunden nötig, reichten nun sieben bis acht Stunden aus. Auch Wissenschaftler arbeiten nach diesem Prinzip, das heißt, sie bauen gezielt auf den Ergebnissen ihrer Vorgänger auf. Nehmen wir als Beispiel wiederum Isaac Newton, der bei der Begründung der klassischen Mechanik mehr oder weniger an die Arbeiten von Nikolaus Kopernikus, René Descartes, Johannes Kepler und Galileo Galilei anknüpfte.

Kein Physiker brauche allerdings zu befürchten, wegen einer »forschenden Maschine« künftig arbeitslos zu werden, betonen Lipson und Schmidt. Denn so ganz ohne Vorwissen fand ihr Computer nicht den Weg zu den Gesetzen Newtons. Namentlich am Beginn der Ausleseprozedur sorgte etwas einprogrammierte Lehrbuchmechanik dafür, dass von den zufällig erzeugten Formeln nur die physikalisch tragfähigen »überlebten«. Diese mussten zum Beispiel die partiellen Ableitungen der Ausgangsdaten, sprich die Geschwindigkeiten und Beschleunigungen der betrachteten Massen enthalten. Außerdem wurden bestimmte unveränderliche Größen, sogenannte Invarianten, von der Software favorisiert. »Sind die Invarianten erst einmal gefunden«, erklärt Schmidt, »sind prinzipiell alle Gleichungen, die das System beschreiben, greifbar.«

Man sollte vielleicht nicht gleich überschwänglich werden. Aber die neue Untersuchung hat eines recht deutlich gezeigt: Computer können nicht nur blitzschnell rechnen. Sie können unter bestimmten Voraussetzungen auch kreativ sein. Und diese Art von Kreativität dürfte in Zukunft vor allem jenen Wissenschaftlern zugute kommen, die große Datenberge anhäufen und darin nach Invarianten und Regelmäßigkeiten suchen. Die interessante Frage lautet nun: Wird in den Computern, die man zur Lösung dieser Aufgabe einsetzt, irgendwann der »göttliche Funke« zur künstlichen Intelligenz (KI) überspringen? Anders als vor Jahren noch geben die meisten Forscher auf derartige Fragen heute nur sehr unscharfe Antworten. Denn zu viele Prophezeiungen über die Entwicklung einer »Menschmaschine« haben sich im nachhinein als illusionär erwiesen. Der amerikanische KI-Pionier Ray Kurzweil bleibt dennoch optimistisch: Sollten sich die Computer weiter so rasant entwickeln wie bisher, könnte darin in absehbarer Zeit Intelligenz von selbst entstehen, könnte sich neben der biologischen eine Evolution von Maschinen etablieren. Ob mit einem solchen Umbruch allerdings schon um das Jahr 2030 zu rechnen ist, wie Kurzweil meint, darf nach aller bisherigen Erfahrung bezweifelt werden.

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