500 Arbeitsplätze vernichtet

Wiesbaden: Gewerkschafter erheben Vorwürfe gegen »Optionskommune«

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 3 Min.
Gut ein Jahr nach Beginn einer öffentlichen Debatte um den Missbrauch sogenannter »Ein-Euro-Jobs« in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden haben sich zwei profilierte Kritiker der Wiesbadener Hartz IV-Praxis erneut zu Wort gemeldet und schwere Vorwürfe an die Adresse der »Optionskommune« Wiesbaden erhoben.

Bei einer Pressekonferenz in dieser Woche unterstrichen der örtliche IG BAU-Sekretär Veit Wilhelmy und das Ex-IG Metall-Vorstandsmitglied Horst Schmitthenner ihre Erkenntnis, dass als Folge der Umsetzung der Hartz-Gesetze in Wiesbaden insgesamt rund 500 versicherungspflichtige Arbeitsplätze direkt oder indirekt abgebaut worden seien. Diese Zahl hatten sie aus einer gründlichen Analyse der Beschäftigungsentwicklung bei der Stadtverwaltung und öffentlichen und kirchlichen Einrichtungen über die letzten Jahre ermittelt.

So seien allein bei der Stadt Wiesbaden insgesamt 90 feste Arbeitsstellen verschwunden. Die dort verrichtete Arbeit – etwa in den Bereichen Grünflächen, Haus-meisterdienste in Schulen und Bürgerhäusern, Aushilfe in Küchen und Kindertagesstätten – werde inzwischen von »Ein-Euro-Jobbern« verrichtet.

Wilhelmy bemängelte, dass eine von den örtlichen Bauhauswerkstätten mit Hartz IV-Empfängern betriebene Fahrradstation am Hauptbahnhof Wiesbaden entgegen ursprünglicher Ankündigungen nicht ausbilde und auch keinen Meister beschäftige. Zudem führten angelernte Ein-Euro-Jobber hier sicherheitsrelevante Reparaturen an Fahrrädern aus. Am Ort tätige Fahrradhändler hätten in diesem Zusammenhang bereits bei der Handwerkskammer Protest eingelegt.

Wilhelmy und Schmitthenner sehen hinter den von ihnen beklagten Zuständen bei der Wiesbadener Ein-Euro-Praxis Methode und handfeste Interessen. Mit 3000 befristeten Maßnahmen pro Jahr werde die Arbeitslosenstatistik massiv geschönt. Zudem mache die CDU-geführte »Optionskommune« mit den zur Verfügung gestellten Bundesgeldern gute Geschäfte, spare Personalkosten und könne mit einem »ausgeglichenen Haushalt« prahlen. Die einzelnen Dezernate in der Stadtverwaltung seien daran interessiert, auch »weiterhin mit billigen Arbeitskräften versorgt« zu werden.

Das Wiesbadener Rathaus wird von einer Koalition aus CDU, FDP und Grünen regiert; Sozialdezernent ist der örtliche SPD-Unterbezirksvorsitzende Arno Goßmann. Der Stadtverordnete Wilhelmy war im vergangenen Herbst wegen seiner Kritik an der örtlichen Hartz IV-Praxis aus der SPD-Rathausfraktion ausgeschlossen worden.

»Ein-Euro-Jobber werden zu 95 Prozent als billige Arbeitskräfte ausgebeutet und nur zu 5 Prozent qualifiziert«, brachte Schmitthenner seine grundsätzliche Kritik auf den Punkt. Wer eine solche Maßnahme absolviert habe, der sei entgegen den Behauptungen der Befürworter der Hartz-Gesetze stigmatisiert und habe hinterher »weniger Chancen am 1. Arbeitsmarkt«, erklärte der Gewerkschafter und verwies in diesem Zusammenhang auf die Ergebnisse einer entsprechenden Untersuchung des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bei der Bundesagentur für Arbeit. Obwohl gerade bei der Stadt und deren Tochtergesellschaften der Missbrauch durch gesetzeswidrige Arbeitsgelegenheiten am massivsten sei, reagiere die Politik auf die konkreten Vorwürfe kaum und beschwichtige oder verharmlose die Zustände.

Dass durch massiven öffentlichen Druck auch »Ein-Euro-Jobs« in größerem Umfang in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse nach Tarif umgewandelt werden könnten, zeigten Städte wie Leverkusen oder Frankfurt am Main. In Wiesbaden betreffe dies bislang aber nur 50 von 1200 Beschäftigungsgelegenheiten und damit einen verschwindend kleinen Teil.


Ein-Euro-Jobs

Ein-Euro-Jobs – in der Bürokratiesprache Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung genannt – sind eine zusätzliche und im öffentlichen Interesse stehende Tätigkeit für Empfänger von Arbeitslosengeld II. Ihr Ziel ist es, Langzeitarbeitslose wieder an den Arbeitsmarkt heranzuführen. Arbeitsmarktexperten, Arbeitsloseninitiativen und Gewerkschafter bezweifeln, dass sie das tun. Untersuchungen zeigen eher: Ein-Euro-Jobs vernichten versicherungspflichtige Arbeitsplätze – beispielsweise in der Pflege. Sicher sind folgende statistische Effekte: Ein-Euro-Jobber gelten nicht als arbeitslos und schönen so die Arbeitslosenstatistik. 2007 waren es bundesweit 333 000. ND

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