• Politik
  • Volksentscheid am Sonntag in Berlin über ein Wahlpflichtfach Ethik / Religion

Kein Streit um den Lehrplan

Volksabstimmung wird auch ein Votum über Staat und Religion sowie den Stand der Einheit

  • Klaus Joachim Herrmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Wer nun wirklich zuletzt lacht, weiß Berlin gegen 20.30 Uhr am Sonntagabend. Dann findet die vielleicht am stärksten ideologisch geprägte Auseinandersetzung der vergangenen Jahre wenigstens an der Wahlurne einen Abschluss.
Der Stuttgarter Künstler stellte diese Arbeit Pro Ethik zur Verfügung. Karikatur: Klaus Stuttmann
Der Stuttgarter Künstler stellte diese Arbeit Pro Ethik zur Verfügung. Karikatur: Klaus Stuttmann

Für den Erfolg des Volksentscheides setzte sich Angela Merkel gestern nachdrücklich vor den Kreisvorsitzenden ihrer CDU ein. Dies tat sie wohl nicht nur als Privatfrau oder Pfarrerstochter, sondern als Parteichefin und Bundeskanzlerin. Mit der Mahnung, dass das wichtig sei, ließ sie wohl in jeder dieser vier Identitäten keinen Zweifel am Stellenwert des christdemokratischen Parteiauftrages.

Auch um die Frühaufsteher wurde intensiv geworben. Die deutsche Fernsehgröße Günter Jauch wurde von der Initiative Pro Reli flugs zum Nenn-Berliner gemacht und wirbt nun in Hörfunk und auf Plakaten für Religion in der Schule als eine Art Freiheit an sich. Der Berliner Alt-Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) raunte mahnende Erinnerung daran, was Verdrängung der Religion an Schrecklichem bewirke. Da dämmerte düster der Teil Berlins herauf, der einst Hauptstadt einer DDR gewesen war.

Mehr noch als im Falle des Volksbegehrens gegen die Schließung des Flughafens Tempelhof Freundschaft und Bruderbund mit der US-amerikanischen Führungsmacht beschworen wurden, schien jetzt die Formel von »Freiheit oder Sozialismus« wiederbelebt. Bischof Wolfgang Huber formulierte es in einem Gespräch mit SPD-Landeschef Michael Müller etwas gewunden: »Ich spüre in dem politischen Vorgehen manche Züge eines antikirchlichen und antireligiösen Affekts.« Das nannte der Dialogpartner dann schlicht »böswillige Unterstellung«.

Beides hätte vielleicht das Zeug zur Gerichtssache, wenn nicht die Zeit für eine im Streit verwendbare Entscheidung inzwischen allzu kurz wäre. Nach dem Verbot der vom Senat veranlassten Anzeigenwerbung waren die damit versehenen Zeitungen ja auch nicht mehr zu stoppen. In ruhigeren Phasen war das Berliner Religions-Bündnis schon mal nach Köln gepilgert, um Bundestags-Vize Petra Pau (LINKE) von dortigen Richtern aus dem Wortgefecht nehmen zu lassen. Sie hatte im Kern das gesagt, was nun Müller unterstrich: »Der gemeinsame Ethikunterricht soll aber abgeschafft werden. Es heißt ja nicht Wahlmöglichkeit, sondern Wahlpflichtfach.« Pau hatte wie Müller die Logik auf ihrer Seite. Denn wenn der Schüler zu Religion ginge, müsste er Ethik lassen. Deshalb fordern ja die Gegner des Anliegens von Pro Reli und Anhänger von Pro Ethik ein Nein der Wähler. Naturgemäß um einiges deftiger als ältere Streiter formulierten ihre Ablehnung die JungdemokratInnen/Junge Linke Berlin: »Religionsunterricht ist staatlich subventionierter Missionarismus.«

Der Streit um Ethik und Religion ist keiner um den Lehrplan Berliner Schulen. Die Abstimmung gibt Auskunft über Zugkraft von Personen und Argumenten, die Ergiebigkeit von Geld- und anderen Quellen hie oder da. Erwartet werden kann ein Hinweis auf den Stand der Einheit der Stadt oder der Teilung in Ost und West, vor allem aber auf das Verhältnis von Staat und Religion. Das macht das Votum bundesweit spannend.


Ja oder Nein

(ND). Rund 2,45 Millionen Berlinerinnen und Berliner sind aufgerufen, am zweiten Volksentscheid in der Hauptstadt teilzunehmen. Abgestimmt werden soll am Sonntag ein Gesetzentwurf über die Einführung des Wahlpflichtbereichs Ethik / Religion an Berliner Schulen. In seiner Sitzung vom 19. Februar 2009 hatte das Abgeordnetenhaus den Gesetzentwurf ausdrücklich abgelehnt. Anders als bei der Abstimmung über den Flughafen Tempelhof im vergangenen Jahr würde der Entwurf bei Erfüllung des Quorums Berliner Gesetz.

Erfolgreich ist das Volksbegehren dann, wenn mindestens ein Viertel der Wahlberechtigten – nicht ganz 612 000 Personen – und gleichzeitig die Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Volksbegehren mit »Ja« stimmen.

Wer mit »Ja« stimmt, ist dafür, dass Ethik und Religion als gleichberechtigte Fächer eingeführt werden und Schüler sich zwischen ihnen entscheiden müssen. Mit »Nein« stimmen diejenigen, die wollen, dass alle Schüler am Ethikunterricht teilnehmen und Religion als freiwilliges Zusatzangebot weiterbestehen soll.

Ob die Befürworter des Wahlpflichtbereichs ihre Anhänger in ausreichender Zahl mobilisieren können, ist bisher noch völlig offen. Die eher geringe Nachfrage nach Briefwahlunterlagen – angefordert wurden rund 70 000 weniger als bei der Abstimmung über den Flughafen Tempelhof – könnte auf eine schwache Beteiligung hinweisen. zei

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