Prächtiger Barock aus der Prignitz

Heute wäre der große deutsche Schauspieler Kurt Böwe 80 Jahre alt geworden

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Es gibt geniale Kritikersätze. Etwa von Alfred Kerr, der erlebte »Don Carlos« und schrieb: »In der Ecke stand ein alter Eisenofen. Beim näheren Hinschauen sah ich, es war Don Phi-lipp.« Auch ND-Autor Volker Trauth gelang als jungem Rezensenten eine starke Beobachtung. Er sah im Berliner Maxim-Gorki-Theater Horst Sakowskis LPG-Schauspiel »Steine im Weg«: »Und dann gab es da noch den Schauspieler Kurt Böwe. Der hatte eine Geste am Anfang des Stückes und überraschenderweise noch eine zum Schluss.« Theatralischer Standfußball. Böwe spielte nicht, er stand – ja: stand – seinen Mann. So sahen sie aus, Parteisekretäre von der kräftigen Stange.

Der Schauspieler nannte sein Gewerbe einen Unfugladen. Weil es so verflucht ernst genommen werden will; und weil es, um wirklich ernst genommen zu werden, so verflucht unernst sein muss – Theater ist eine Lüge, die Wahrheiten erzählt, und die erste Aufgabe eines Schauspielers besteht darin, gedruckte, tote Worte in lebendiges Fleisch zu verwandeln. Immerhin: Böwe hatte beträchtlich viel davon. Er genoss die Fülle. Erst mit den Jahren wurde seine Statuarik zur Kunst.

Ich mache Theater, sagte Böwe gern mit den Worten George Taboris, aus einem einzigen Grund: Lustige Person zu sein. Das ist die unmöglichste Versuchung der Welt. Lebenshilfe, Trost, Herausforderung. Was für ihn persönlich immer hieß: Wie bringt man seinen persönlichen Zustand in Einklang mit der Rolle? Des Schauspielers Gestalten-Bildnisse waren keine prononcierten Glücksbilder, auch keine eindeutigen Unglücksbilder, keine polemischen Machtbilder, auch keine klagenden Ohnmachtsbilder, sondern einfach Daseinsbilder ohne Gewissheiten. Noch im allerfremdest Dargestellten leuchtete Böwes Begehrlichkeit nach seinem Selbst auf. Das klingt merkwürdig, aber konkret war es so: Dieser Schauspieler funktionierte entweder von seiner eigenen Mitte aus, oder das, was er machte, war falsch.

Man weiß genau, sagte er, dass wir Menschen eine Reserve in unserer Seele entwickeln, die größer ist als das, was wir verbrauchen, eine Reserve an Gutem und Bösem, Begreiflichem und Unbegreiflichem, Großem und Niederen, Weitem und Engem, an Maßlosigkeiten, Verlorenheiten, Liebes- und Trauerwahnsinn, Verirrungen und Grenzüberschreitungen. Wohin damit? Wie definieren wir unsere Existenz? Aus der komischen Perspektive, aus der tragischen, aus der erhabenen? Sind wir Heroen oder Kümmerlinge? Je nachdem, wie wir uns gerade verstehen, handeln und erleben. Wir wechseln zwischen all diesen Definitionen, als wären es nur Empfindungen. Es kam auf der Bühne nun darauf an, all diese private Not und Natur in eine Gabe zu verwandeln, die nichts weiter als Mitteilungsfähigkeit hieß. Der Ausdruck des Darstellers ist ja nicht Verstellung, sondern Erfahrung, zuvörderst die des Schauspielers selbst. Der gute Maskenmacher, so Alfred Polgar, hat auch die Tube mit Ungeschminktheits-Schminke in der Schublade. Böwe mochte Schminke, Masken prinzipiell nicht. Eine Grundscham hat er nie ganz überwinden können.

Stets war er als Darsteller also ein bewusster Reproduzent seiner selbst, nie so sehr ein Verwandler. Das Spiel mit dem schönen Schein geriet ihm in besten Momenten zur Existenzprobe, die viel auch mit bewahrter Nähe zu Wurzeln, Irrtümern des Landes DDR zu tun hatte. Just in den letzten Jahren, da sich für den Ost-Menschen die Welt öffnete, hat der Schauspieler, ein Protagonist des Deutschen Theaters Berlin, eine Wende gänzlich anderer Art vollzogen: Der Reetzer Bauernsohn ist, über sein Leben nachdenkend, gleichsam zurückgekehrt ins Provinzielle, in seine Prignitzer Landschaft. Der zweite Wohnsitz, neben dem Lichtenberger Punkthochhaus, als durchaus erster Gedankensitz – weil Böwe sich, so abgestanden es klingen mag, treu bleiben wollte. Treue nicht aus irgend einem vordergründigen moralischen Imperativ heraus, sondern als einem verstärkt gehandhabten Mittel, sich mitten im Komödiantentum unbeirrbar seiner ureigenen Realitäten zu vergewissern. Das Land, die flache Gegend, die Einfalt der Leute, die gegerbte Natürlichkeit und das Desinteresse am Piekfeinen. Nur das, was man war und bleibt, ist verwendbar für die Verkaufsregale im Unfugladen.

Zu den Wurzeln dieses Schauspielers gehörte auch die Fast-Karriere als Theaterwissenschaftler. Schon bedenkliche 150 Seiten betrug 1960 die Doktorarbeit über die gesellschaftliche Stellung des deutschen Berufsschauspielers von 1600 bis 1795, ehe Böwe vom Studententheater der Humboldt-Universität auf eine Bühne der Professionellen verführt und durch Regisseur Horst Schönemann der Wissenschaft auf immer entrissen wurde. Ein Schicksal, so meinte er später, das für alle Beteiligten die wahrscheinlich beste Lösung darstellte. Maxim-Gorki-Theater Berlin, Landestheater Halle, Deutsches Theater Berlin.

Wer dem Publikum nur Selbstbestätigung gibt, zerstört das Theater. Wer sie ihm nur verweigert, zerstört es auch. Irgendwo dazwischen liegen Quellen, aus denen Volksschauspieler wie Kurt Böwe entstehen. Arbeit, die in der Zeit wurzelt und ihr zugleich entkommt – so wird aus Handwerk Kunst. Und ein Lebenswerk. Alle agitiert, Trullesand (Kants »Aula«) und Gubanow (»Zeitgenossen«); alles erlebt, Faust; alle gütigst belogen, Luka (Gorkis »Nachtasyl«); alles tragisch ertrotzt, Michael Kohlhaas; alles erlitten, Ibsens »Volksfeind«; die eigene Klasse verflucht, Kapitalist Jegor Bulytschow; alles plötzlich traumgespenstisch erahnt, blauer Boll; alles inszeniert, Bruscon (Bernhards »Theatermacher«); alles schon ermittelt, Kommissar Groth (»Polizeiruf 110«); also: alles durchrast, Kurt Böwe. Im Film Jadup, der machtverfettete Professor in »Märkische Foirschungen«, der Schöpfer vom nackten Mann auf dem Sportplatz, der Landarzt in Vera Loebners »Später Ankunft«, einem der schönsten DDR-Fernsehfilme. Und wunderbarer Großvater und witzig Weiser in sanften, poetischen Kinderfilmen. Und natürlich mit dieser Stimme – die er in Filmen wie »Solaris« und »Goya« dem Donatas Banionis lieh – der Erste unter den Fontane-Vorlesern!

Er war auch Tankred Dorsts »Herr Paul« in den Kammerspielen des DT. Herr Paul, der von seinem Sofa vertrieben werden soll – aber nicht vertrieben werden kann. Das schwere Kind, das Gewicht der Welt. Behend wie eine Katze, der Leib aber schwer wie ein Sack. Ganz bei sich. Altdeutsche Trägheit siegte über neudeutschen Aktivismus. Wenn der Schauspieler über die Bühne schlurfte, wurde nicht schlechthin Staub aufgewirbelt; nein, Staub schwang sich auf – und zwar zu dem, was er letztlich immer bleibt: Herr über alle Dinge. Herr Paul konnte auf Zehenspitzen ganz laut gehen. Herr Paul war das Messer, das auf seinen Rost stolz war. Herr Paul war eine Expedition in die Urwälder des Alleinseins. Herr Paul. Herr Kurt.

Schauspieler sind die verwundbarsten Kinder der Kunst. Der Törichte nennt sie oberflächlich, der Ahnungslose leichtsinnig. Besteigen sie am Abend die Bretter, geschieht doch aber Ungeheuerliches: Das gedachte und geschriebene Wort von einst und jetzt belebend, schenken sie uns für Stunden den Triumph des Lebens über das Leblose. Ja, über den Tod. Theater macht Hoffnung, der abgeschickte Pfeil könne aufzuhalten sein. Kurt Böwe, der gemeinsam mit Dieter Franke oder Dietrich Körner dem DT Leibeskraft gab, Spieler bei Schroth, Dresen, Lang, Winkelgrund, Wekwerth, Bühnenpartner von Ursula Werner, Ulrich Mühe, Peter Schroth, Inge Keller, Elsa Grube-Deister und Christine Schorn, ach, man möchte Namenslisten wie Verszeilen hinschreiben und wäre in einem Paradies der Einnerungen ...

Kurt Böwe, der große Schauspieler (»Ich bin krumm und behäbig und ein wenig ausgehangen wie die ganze DDR«), wäre heute achtzig Jahre alt geworden. Der asthmatische Bauernjunge (»Ich war mit meiner Krankheit Fehlwuchs auf dem Hof«), der in eine Berühmtheit verschlagen wurde, die das Plebejische, Provinzielle auf unverwechselbare Weise adelte – er starb im Juni 2000. Er wird unvergessen bleiben. Oder um das Pathos zu zügeln: Der Unfugladen bleibt durchgehend geöffnet, und der Himmel, wo Ludwig, Franke und eben auch Böwe sind, ist längst eine Kantine.

Der Autor schrieb: »Kurt Böwe – Der lange kurze Atem«, »Der Unfugladen – Schluss mit dem Theater?« (mit Kurt Böwe), »Böwes Fontane«; Verlag Das Neue Berlin.

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