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Ja zu Europäischer Bürgerinitiative

Eine Abschiedsrede im Straßburger Parlament oder: Die Linke in der Zwickmühle

  • Roland Etzel, Straßburg
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Bürger der EU-Staaten sollen künftig das Recht zu einer »Europäischen Bürgerinitiative« (ECI) haben – einer Art Volksbegehren im übernationalen Maßstab. Diese Forderung erging am Donnerstag vom Europäischen Parlament an die Europäische Kommission. Eine lange Geschichte geht damit in die nächste Runde. Eigentlich sind es zwei Geschichten. Die erste, die europäische, geht so:

Eine Mitternachtsmesse war es nicht ganz, aber vielleicht erlebte Sylvia-Yvonne Kaufmann trotzdem einen Moment des Hochgefühls, als am Mittwoch kurz vor 24 Uhr die letzte Debatte des Tages beendet war: Die Weichen für ein Ja des Europäischen Parlaments (EP) waren gestellt. Eine Art trotzige Erleichterung scheint sie nun auszustrahlen. Das wäre nur zu verständlich, denn die Abgeordnete der GUE/NGL-Fraktion war Berichterstatterin zum Thema ECI. Die Initiative ist gewissermaßen »ihr Baby«, für dessen Erfolg sie sechs Jahre lang gekämpft hat. Nun soll es seinen Weg weitergehen dürfen.

Aber nüchtern betrachtet: Ist es tatsächlich ein Meilenstein in der Entwicklung der EU? Schon möglich, auch wenn das endgültige Urteil späteren Generationen vorbehalten bleibt. Wenigstens ein bedeutender Tag in der EP-Geschichte? Zumindest halten viele Abgeordnete die ECI-Entscheidung für eine der wichtigsten der abgelaufenen Legislatur. Obwohl der Verhandlungsgegenstand auf ein wahres Wortungetüm getauft wurde: »Bericht mit der Aufforderung an die Kommission zur Unterbreitung eines Vorschlags für eine Verordnung des EP und des Rates zur Umsetzung der Bürgerinitiative«.

Im Plenarsaal vergehen dem Beobachter des vermeintlich historischen Moments Gedanken an parlamentarische Sternstunden allerdings schnell. Fünf Minuten vor Debattenbeginn befinden sich weniger als 20 Abgeordnete im Saal, selbst das Präsidium schwächelt personell. Trotzdem, die »letzte Nachtsitzung der Legislaturperiode«, so der Tagungspräsident, beginnt pünktlich 21 Uhr. Auch die GUE/NGL-Fraktion hat – freundlich ausgedrückt – stark gelichtete Reihen. Aber das gehört eigentlich schon zur zweiten Geschichte...

Sylvia-Yvonne Kaufmann ist pünktlich, aber allein in Bankreihe 2 ihrer Fraktion – fast. Acht Reihen (und gefühlte acht Lichtjahre) hinter ihr sitzt ebenso einsam Fraktionskollege Tobias Pflüger. Das entspricht auch der vorgeschriebenen Sitzordnung. Alle anderen fehlen.

Sie hält ihre Rede als Berichterstatterin dennoch, als wäre der Saal voll, routiniert, etwas unterkühlt, aber bestimmt, nutzt ihre Redezeit nicht einmal ganz aus. Alles ist in all den Jahren schon so oft gesagt worden und niemand hier, den sie noch umstimmen könnte oder müsste. Der Dank an die Kollegen anderer Fraktionen und die »verehrte Vizepräsidentin« der EU-Kommission Margot Wallström, von denen sie sich in ihrem Anliegen unterstützt fühlte, ist mehr als eine Höflichkeitsgeste. Denn Kaufmanns Rede ist auch eine des Abschieds vom Parlament.

Ihr Vorredner, der Deutsche Jo Leinen von der Sozialistischen Fraktion, der auch zu den Bedankten gehört, hatte die späte Stunde verflucht. Er sitzt ebenso einsam wie seine linke Kollegin, macht dafür aber auch die Feigheit der Geschäftsordnungsbürokratie verantwortlich, die das heiße Thema Lissabon-Vertrag in die öffentlichkeitsarme Abendstunde versenkte. Auch der österreichische Grüne Johannes Voggenhuber spricht von den Bewohnern des konstitutionellen Elfenbeinturms, die eine Debatte am Vormittag fürchteten, auf die er sich so gefreut hatte. Dabei haben die Kritisierten doppelten Grund sich zu ärgern, dass sie nicht mutiger waren. Am Nachmittag war die Nachricht ins Plenum geplatzt, dass der tschechische Senat mit klarer Mehrheit dem Lissabon-Vertrag zugestimmt hat. Wenn sie das vorher gewusst hätten ...

Ja, der Lissabon-Vertrag. Untrennbar verbunden ist sein Schicksal mit dem des Kaufmann-Reports, im Guten wie im Schlechten. Und mit linker Europa-Politik. Das ist die zweite Geschichte dieses Abends. Die Linken haben heftig über Lissabon gestritten. Für die Kritiker ist der Vertrag ein Einfallstor für Militarisierung und Neoliberalismus. Der Essener Parteitag der Linkspartei hat das bekräftigt und damit auch das mögliche Mehr an Demokratie innerhalb der EU mittels des Vertrages abgelehnt. Die Iren taten das gleiche per Volksabstimmung, wenn auch vornehmlich aus anderen Gründen. Aber ohne Lissabon-Vertrag auch keine ECI.

Trotzdem sah es noch ganz zuversichtlich aus für den Kaufmann-Bericht – bis zur Fraktionssitzung am Dienstag. Da gab es einen Antrag der Irin Mary-Lou McDonald, die Fraktion möge die Absetzung aller Tagesordnungspunkte mit Bezug zu Lissabon, also auch ECI, beantragen. Eine Behandlung würde Tolerierung von Lissabon bedeuten, und das wolle man nicht. Nach Diskussion empfahl Fraktionschef Francis Wurtz (Frankreich) den Mitgliedern, entweder mit Nein zu stimmen oder der Abstimmung fernzubleiben.

Immerhin, am Ende heißt das Ergebnis: 380 Ja-Stimmen, 41 Nein-Stimmen, 29 Enthaltungen. Sollte also Lissabon nicht doch noch scheitern, wird die Europäische Kommission bald befinden müssen, was sie in Sachen Europäische Bürgerinitiative vorschlägt: Wie viele Bürger in wie vielen Ländern sollten unterschrieben haben, damit ein Bürgerbegehren beginnen kann? Wie und in welchem Zeitraum dürfen Unterschriften gesammelt werden? Welche Themen wären aus juristischen Gründen unzulässig, weil sie in nationales Recht eingreifen?

Gibt es aber ECI, bleibt die Zwickmühle für die LINKE ebenso wie für die nächste GUE/NGL-Fraktion. Denn Lissabon-Vertrag hin oder her: Das Junktim, das sich die Linke zwischen Vertrag und ECI geschaffen hat, schmälert in der öffentlichen Wahrnehmung ihr Bekenntnis zu einem ihr sehr wichtigen politischen Ziel: mehr Volksgesetzgebung. Wovon die Möglichkeit eines Bürgerentscheids auf europäischer Ebene – also für rund 500 Millionen Menschen – ein ganz wichtiger Bestandteil wäre.

Wer wird den Gordischen Knoten durchschlagen? Auch der unerwünschte Beifall, den die Linke in dieser Woche aus bestimmter belgisch-flämischer oder französischer Ecke erhielt, wird dazu beitragen müssen, dass das Thema auch ohne eigenes Zutun immer wieder auf der Tagesordnung steht.


Aus der Rede:

»...in eigener Sache: Mit Bedauern musste ich zur Kenntnis nehmen, dass sich weder meine Fraktion noch meine Partei – vorsichtig ausgedrückt – für die Europäische Bürgerinitiative er-wärmen konnten. Während einerseits keine Gelegenheit ausgelassen wird, das Demokratiedefizit in der EU zu beklagen, verweigert man sich ernsthaften Schritten, die das europäische Projekt demokratischer machen...

...die Bestimmungen zur Bürgerinitiative ... fanden sich bereits im Verfassungsvertrag, denn sie sind im Verfassungskonvent in enger Zusammenarbeit mit NGO's entwickelt worden... Es muss endlich gelingen, sie zum Leben zu erwecken, denn es ist höchste Zeit für direkte Demokratie im geeinten Europa!«

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