• 7. ND-Lesergeschichten-Wettbewerb

Mitfahrgelegenheit nach Groß-Klein am 9. November

  • Uwe Braun, 54421 Reinsfeld
  • Lesedauer: 4 Min.
7. ND-Lesergeschichten-Wettbewerb: Mitfahrgelegenheit nach Groß-Klein am 9. November

Udo war noch nicht lange mit seinem blauen Trabant an diesem Donnerstagabend unterwegs, als er den kleinen Mann mit dem erhobenen Daumen am Straßenrand wahrnahm. Er betätigte den Blinker und fuhr rechts ran. Der Mann öffnete die Beifahrertür und fragte: »Fährst Du in Richtung Groß-Klein?«
»Lichtenhagen – komm rein«, antwortete Udo und beförderte seine Reisetasche mit Schwung vom Beifahrersitz auf die hintere Sitzbank. Der kleine Mann setzte sich gut gelaunt neben Udo und legte den Sicherheitsgurt an. Erst jetzt erkannt Udo, dass der Anhalter erheblich älter war, mindestens 50 Jahre und seine Haare waren bereits grau. Aber wenigstens stank er nicht nach Alkohol, wie der von voriger Woche. Die rothaarige Studentin vor zwei Wochen am Tag seines 31. Geburtstages war da schon eine angenehmere Mitfahrerin.
Udo lächelte und fragte fast nebenbei: »Was machst du um diese Zeit noch in der Stadt?« Der Grauhaarige sah Udo etwas verwundert an und meinte nur: »Donnerstag Junge, da haben wir wieder mal die Stasi aufgemischt!«.
»Wie das?«, wollte Udo wissen und sah den Grauhaarigen nur kurz von der Seite an. Dieser begann wie selbstverständlich zu erzählen. Udo setze den Blinker nach links und reihte sich wieder in den Straßenverkehr ein. »Stell dir vor, wir kommen in die August-Bebel-Straße und soweit das Auge reicht sind nur Leute zu sehen. Vor dem Haupteingang standen heute sogar drei von den Stasileuten – wie die Ölgötzen, als wären sie in Stein gemeißelt – wir haben gepfiffen und gerufen, ›Stasi in die Produktion‹, als irgendeiner rief ›Hängt sie auf – die Schweine‹ – ehrlich ich habe gedacht, jetzt werden die drei gekillt«.
»Und?«, fragt Udo so beiläufig wie nur möglich. »Na ja, es war für einen kurzen Augenblick ganz still, bis einer rief ›Weitergehen – keine Gewalt‹, und so ging der ganze Demozug einfach weiter. Aber ehrlich, das war vielleicht ein Ding!«.
Udo wurde heiß und kalt zugleich, der Grauhaarige schien davon aber nichts zu bemerken. Wie nebenbei fragte er: »Hast du das mit der Grenze gehört?« Udo winkte ab und sagte nur: »Will ich mir nachher im Fernsehen ansehen!«. »Hast recht«, sagte der Grauhaarige, legte seinen Kopf an die Autoscheibe der Beifahrertür und sackte in einen tiefen Schlaf.
Udo musste jetzt schmunzeln und lenkte seinen Trabant über das Schutower-Kreuz in Richtung Lichtenhagen. Ist schon komisch, dachte er. Die dritte Woche hintereinander hat er jetzt am Donnerstag einen Extradienst einschieben müssen, aber heute hatte er zum ersten mal in seinem Leben wirklich so was wie Todesangst verspürt. Als er mit Pit und Rainer von der zweiten Kompanie der Wach- und Sicherungseinheit vor dem Hauptgebäude des Ministeriums für Staatssicherheit in der August-Bebel-Straße, unmittelbar vor dem Haupteingang, seinen Posten bezog, schien die Zeit der Sorglosigkeit vorbei. Ihm lief ein Schauer über den Rücken als er an den Moment dachte, als der Demonstrationszug für den Bruchteil eines Augenblicks zum Stehen kam und einer aus der Masse rief: »Hängt sie auf – die Schweine!« Da hatte er für einen Moment sogar die Augen geschlossen. Als er sie wieder öffnete, erkannt er Kalle, seinen Sportoffizier, heute mal in Zivil. »Weitergehen – keine Gewalt!« rief der, und dabei schien es, als husche ihm ein Lächeln übers Gesicht. Udo schloss erneut die Augen und spürte wie seine Beine ganz leicht zu zittern begannen. Die Pistolen trugen sie zwar am Mann, aber die Munition hatten Sie sicherheitshalber beim Wachhabenden im Panzerschrank hinterlegt. Er wusste seine Genossen hinter der Tür in Bereitschaft, und die beiden Kameras, welche erst vor zwei Wochen über dem Haupteingang angebracht worden waren, hatten sie ständig im Bild. Hoffentlich bekommt das Zittern keiner mit, dachte er, und als er die Augen öffnete war Kalle schon aus seinem Blickfeld verschwunden.
Zwölf Minuten später war der Demonstrationszug vorbeigezogen, und er wurde wieder in das Gebäude geholt. Heute war es irgendwie still im Aufenthaltsraum der Wacheinheit. Die jungen Soldaten und Unteroffiziere saßen vor dem Fernseher, wortlos betrachteten sie die Nachrichtensendung mit den Bildern von der Pressekonferenz in Berlin. Udo hatte sich rasch umgezogen und seine Uniform in seiner Reisetasche verstaut. In »Räuberzivil« – Jeans und Paker – verließ er die Bezirksverwaltung über den Hof und ging in die Augustenstraße, wo er seinen Trabant an diesem Abend abgestellt hatte.
Der Trabant hielt in der Busnische zum Übergang nach Groß-Klein. Der Grauhaarige hatte fest geschlafen, und Udo musste ihn zweimal fest durchrütteln, bis er langsam zu sich kam. »Danke«, rief er und war im nächsten Moment schon ausgestiegen. Vorsichtig schloss er die Beifahrertür und hob seine rechte Hand zum Gruß als sich der Trabant auf der fast leeren Straße in die linke Spur einordnete und in Richtung Lichtenhagen abbog.
Als Udo wenig später seine Wohnungstür öffnete rief seine Frau aus dem Wohnzimmer: »Komm schnell, Udo! In Berlin haben sie die Mauer geöffnet.« Und sie fügte hinzu: »Die spinnen doch, diese Berliner!« Udo stellte seine Reisetasche neben die Kommode im Flur und fragte, als er ins Zimmer trat: »Und was ist daran neu?«

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