Wessis machen »rüber«

Am Philipp-Melanchton-Gymnasium im thüringischen Gerstungen kommt die Hälfte der Schüler aus Hessen

  • Harald Lachmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Sebastian Schrumpf (li.) und Florian Hertrampf
Sebastian Schrumpf (li.) und Florian Hertrampf

Wollen talentierte Viertklässler aus dem hessischen Landkreis Hersfeld-Rotenburg ans Gymnasium wechseln, kann das für sie zur Lotterie werden. Denn haben sie sich das Philipp-Melanchthon-Gymnasium in Gerstungen ausgeschaut, benötigen sie dazu Losglück. »Letztes Jahr mussten wir wieder fast 30 Kinder weglosen«, kommentiert dies der amtierende Schulleiter Gert Lindner sarkastisch.

Die Hintergründe sind politischer Natur. Denn Gerstungen liegt in Thüringen. Wer von Hessen hierher zum Unterricht fährt, flieht damit quasi in den Osten. Er wird zum »Schulflüchtling«, wie man selbst in Kreisverwaltung und Medien etwas pikiert jene weit über tausend Landeskinder nennt, die jenseits der einstigen Grenze die Klassenzimmer bevölkern. Pikanterweise befindet sich das Melanchthon-Gymnasium auch noch in einem umgebauten DDR-Zollgebäude, in dem die Stasi Telefone abhörte.

Doch auch Thüringens Politikern schmeckt all das nicht wirklich. 2005 wollten sie das Gerstunger Gymnasium sogar schließen, da es mehr von Hessen als von Thüringern besucht wurde. Der Wartburgkreis als Träger fürchtete, finanziell auszubluten. Denn die Kinder aus Bebra, Rotenburg oder Obersuhl zahlen keine Gastschulbeiträge. »Geld fließt höchstens über den Länderfinanzausgleich«, erläutert Lindner.

Nach teils erbittertem Widerstand von Eltern, Schülern sowie den 65 Lehrern blieb die Schule zwar erhalten, nun aber nur noch dreizügig. Mehr als 90 Kinder dürfen pro Jahrgang nicht aufgenommen werden – und die Hälfte hat aus Thüringen zu kommen. »So muss eben bei mehr Anmeldungen aus Hessen immer wieder das Los entscheiden«, schüttelt der Lindner den Kopf. Nur jene, die die schon ältere Geschwister »drüben« haben, gelten als gesetzt.

Die Gründe, die Thüringer Schulen für hessische Eltern so attraktiv machen, erlebt der Schulchef stets am Tag der offenen Tür: »Sie wollen wissen, ob wir noch täglich Hausaufgaben aufgeben. Sie sind beeindruckt, dass die Klasse morgens aufsteht, wenn der Lehrer hereinkommt. Sie schauen sich die Sauberkeit der Toiletten an.« Sei es anfangs vor allem der Zeitgewinn durch das so genannte Turboabitur gewesen, das manchen nach Thüringen lockte, blicke man heute, da auch Hessen das achtjährige Abitur einführte, »vor allem auf ein straff organisiertes Leistungsprinzip«. Ordnung und Disziplin seien für viele Eltern das A und O.

Es klingelt zur Pause. Das lichtdurchflutete Atrium der Schule, das mit seinen halbkreisförmigen Absatzstufen und einer kleinen Bühne an ein Amphitheater erinnert, füllt sich schnell. Auch Sebastian Schrumpf und Florian Hertrampf treffen sich auf einen Schwatz. Der 18-jährige Schrumpf stammt aus Thüringen und ist Schülersprecher am Gymnasium, Hertrampf sein Stellvertreter. Er kommt jeden Tag aus dem hessischen Bebra zum Unterricht und fühlt sich hier absolut wohl, wie er versichert. Dass die Schule in einem anderen Bundesland, gar im Osten liegt, sei ihm gar nicht bewusst gewesen, als er sich damals für Gerstungen entschied, versichert der aufgeweckte 16-jährige. Er sah sich seinerzeit mit den Eltern in mehreren Gymnasien um und entschied sich dann für Gerstungen. Danach befragt, was ihm hier am besten gefiel, kommt ein verblüffender Grund: »Dass die Klasse jede Stunde das Zimmer wechselt, also zum Lehrer geht, statt dass der zu ihnen kommt.« Das sei halt das typische Fachkabinettprinzip, wie man es schon immer im Osten praktiziere, fügt Lindner hinzu.

Auch sechs Jahre später kommt Florian »der ganze Schulalltag in Gerstungen viel disziplinierter und strukturierter« vor, als er es von Freunden in Hessen hört. So machen noch heute junge Hessen knapp die Hälfte der gut 700 Schüler am Melanchthon-Gymnasium aus. Die meisten kommen mit dem oft überfüllten Zug, allerdings ist die Schule keine zehn Fußminuten vom Bahnhof entfernt. Nicht wenige nutzen auch private Fahrgemeinschaften, zu denen sich ihre Eltern zusammentaten. Allerdings zahlen sie dabei drauf. Denn zwar gebe es in Deutschland Schulfreiheit, betont Lindner, doch die Behörden beglichen nur den kürzesten Schulweg. »Die Differenz müssen die Familien selbst tragen«, erzählt er. Offenbar sei es ihnen aber Wert.

Derweil ist in Hessen nun der Streit über das verkürzte Abitur entbrannt. Nicht wenige Eltern, Lehrer auch Schüler empfinden es als Stress, würden wohl gern zum Neunjahresrhythmus zurückkehren. Lindner versteht drum nicht, dass man sich dazu nicht einmal in Thüringen umtut. Hier habe man jahrzehntelange Erfahrung mit dem Abi nach Klasse 12, sinniert er. Die Lehrpläne seien nicht überfrachtet. Belastungen von 35 und mehr Wochenstunden, wie er aus Hessen hört, gebe es nicht. Sechs Schulstunden am Tag wären Standard. Das erfordere freilich Disziplin und Engagement von Schülern, Lehrern und auch Planern. »Es gibt hier keinen Unterrichtsausfall«, so Lindner. Dafür sei seine Einrichtung »kein Spaziergang, es ist eine Leistungsschule«.

Das scheint aber vielen offenbar zuzusagen. »Wir schreiben hier bereits Seminarfacharbeiten und halten Vorträge in wissenschaftlichen Kolloquien, die wir dann auch verteidigen müssen«, berichtet Sebastian Schrumpf, der mal Arzt werden will. Florian Hertrampf, der »etwas mit Naturwissenschaften« studieren möchte, nickt dazu. Er glaubt, mit einem »Thüringer Abitur mehr Chancen zu haben als mit einem aus Hessen«.

www.gymnasiumgerstungen.de

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