Der unlösbare Gefühlsknoten

»Backstage. Ulrich Matthes«. Ein Gesprächsbuch von Michael Eberth

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Cowboy, Orlando (»Wie es euch gefällt«, 1988, München), privat, »Onkel Wanja«, Berlin 2008
Cowboy, Orlando (»Wie es euch gefällt«, 1988, München), privat, »Onkel Wanja«, Berlin 2008

Manchmal genügen wenige Szenen, einen Menschen zu beschreiben. Vielleicht diese: Der junge Schauspieler Ulrich Matthes kommt an die Freie Volksbühne in Berlin zu einem Vorsprechen bei Arie Zinger. Der ist nicht viel älter als er und ein Vertreter des radikalen Regietheaters. »Er hatte mich gefragt, was ich ihm zeigen will, ich hatte ihm aufgezählt, welche Rollen ich vorbereitet hatte, wie man das eben macht, und er hatte gesagt: ´Das interessiert mich alles nicht. Das ist mir zu langweilig. Aber in der Ecke hockt ein Kaninchen. Bring das mal um.«

Dies ist eine Bewerbungssituation, also geht der junge Mensch zum Kaninchen. Das spielt in irgendeiner Produktion mit und hat darum in einer Bühnenecke seinen Käfig. Er steht davor und macht – nichts. Der Radikalismo-Regisseur: »Das ist mir alles zu langweilig! Dir fällt wohl nichts ein! Danke sehr, das war's!«

Das ist Matthes geblieben: einer der mitspielen will, aber nicht um jeden Preis. Heute ärgert er sich, diesem geistigen Anstifter zum Kaninchenmord nicht gesagt zu haben, was er von solcherart Pseudo-Radikalität hält.

Aber für manches ist ja auch im Nachhinein noch Gelegenheit. So in diesem Gesprächsbuch »Backstage Ulrich Matthes« aus dem Verlag Theater der Zeit (120 S., engl. Broschur, 15 ¤), der damit eine neue Gesprächsbuchreihe eröffnet. Ein schlanker, in seiner gelungenen Funktionalität auch schöner Band, halb Dossier, halb Bildband im Kleinen. In Michael Eberth hat Matthes einen Fragesteller zur Seite, der als Dramaturg (München, Düsseldorf, Hamburg, Salzburger Festspiele, auch am Deutschen Theater) ein Insider der (west-)deutschen Theaterszene ist – was im Gespräch mit dem gebürtigen Westberliner Matthes schnell Vor- wie Nachteile offenbart. Man versteht sich, ohne sich wirklich in Frage zu stellen. Jener Energiegrad jedoch, bei dem der Funke überspringt und Unerwartetes passiert, bleibt unerreicht.

Matthes ist kein wilder Mann, er ist eher das, was man einen vernünftigen Menschen nennt. Einer, der es liebt, offen seine Meinung zu sagen, und den es auch nicht stört, dass das dann mitunter nach Klassensprecher klingt. Ein behüteter Bürgersohn, der Vater einst ein bekannter Journalist beim »Tagesspiegel«. Als Sechsjähriger lässt er sich in Cowboykluft fotografieren. Die Show-Pose lässt befürchten, hier ist jemand von sich selbst ganz und gar hingerissen.

Als dieses Foto entsteht, ist er bereits ein Kinderstar im Fernsehen. Einer, dem es am Anfang selbstverständlich vorkommt, dass sich alles um ihn dreht. Irgendwann hat diese Selbstverständlichkeit aufgehört, muss er lernen, auch Niederlagen einzustecken. Zum Glück, sonst wäre er wohl der besserwissende Narziss geblieben, vor dem er sich in der Pubertät selbst zu fürchten begann.

Matthes, der Einzelgänger. Mit starkem Selbstbewusstsein, dem das politisierte Germanistikstudium der Freien Universität in den 70er Jahren schnell auf die Nerven geht. Er sehnt sich nach dem Theater, aber jetzt anders als der zum Colt greifende Cowboy jenes Kinderfotos. Im Spiel etwas über sich selbst erfahren bedeutet, sich einer ungewissen Situation auszusetzen, herausfinden wollen, was einen mit einer Figur verbindet und was von ihr trennt. Seine besten Rollen sind darum jene vertrackt-vergrübelten Außenseiter wie Onkel Wanja bei Tschechow oder George in »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?«

Allesamt Cowboys, jedoch, nachdem sie vom Pferd gefallen sind. Da zeigt sich Matthes als Kammerschauspieler par excellence. Er vermag Intimität zu spielen, ohne privatim zu werden, eben weil er irritierbar bleibt durch das, was von außen kommt. Eine Schauspielschule besuchte er nie, ließ sich ein Jahr von Else Bongers privat unterrichten (damals schon über achtzig), jener legendären Besetzungschefin der Ufa, die auch Hildegard Knef entdeckte. Aber auch von dieser etwas altmodischen Art des Unterrichts musste er sich wieder befreien, drängte ans Theater. Mit den all den Demütigungen, die ein Debütant am Stadttheater erfährt, aber dann auch schnell mit den Triumphen, wie man sie so nur in der Provinz erlebt.

Zuerst Krefeld, wo alle Theatergängerinnen den jungen Helden lieben, der da schon weiß, dass er erotisch Männer bevorzugt. Der Weg zu diesem Coming out bleibt unbesprochen. Dann Düsseldorf. Schließlich die Berliner Schaubühne bei Andrea Breth, die ihn erst bevorzugt, dann eiskalt fallenlässt. Ihr Verdikt, er mache die ganze Aufführung kaputt, einen Tag vor der Premiere von Euripides »Orestes« gesprochen, in der er die Titelrolle spielt, verletzt ihn noch heute. Mit Vertrauensbruch kann er schwer umgehen.

Weggang von der Schaubühne Mitte der 90er, doch schnell wieder Sehnsucht nach einem Ensemble. Außenseiterambitionen. Es ist, so scheint es, jene Tschechowsche Gefühlskonstellation, lauter einander ausschließende Dinge zu wollen, die ihn zum Ausdruck treibt. In Volker Schlöndorffs »Der neunte Tag«, einem der wichtigsten deutschen Filme der letzten Jahre, spielt er einen Priester, der aus dem KZ Urlaub bekommt. Fast gleichzeitig sah man ihn als Goebbels im »Untergang«. Scharfe Kontraste – die er sucht.

Das Interessante, weil Provozierende an diesem Buch ist seine Perspektive. Den Westblick auf Stadt und Theater kann er sich nur mühsam abgewöhnen – soll er das denn überhaupt? Trifft er jedoch auf den Ostblick, ärgert ihn das wie jeden x-beliebigen Zehlendorfer Lokalpatrioten. Für ihn war die Schaubühne alles, das Schillertheater schon etwas weniger – und das Deutsche Theater? Heute ist er ein Hauptdarsteller jenes Hauses, das in der DDR Kunstleistung zum Hochleistungssport machte. Matthes, aufgewachsen mit Martin Held und Bernhard Minetti, lebt mit diesen wichtigen Erinnerungen – kann aber nur schwer anerkennen, dass es anderen mit Mühe, Böwe, Körner, Baur, Ludwig, Mann, Grashof, Düren, Esche, Piontek, Schorn, Ritter, Wachowiak etc. ebenso geht.

Leider ist Michael Eberth mehr Stichwortgeber als Widerpart in Sachen Ressentiment, so, wenn er meint, in der DDR habe sich der Schauspieler im »Besitz der Wahrheit« gewähnt, die er folglich nicht mehr suchen musste. Wenn das eine Umschreibung dafür sein soll, dass es im Osten in der Kunst immer um mehr ging als um bloße Selbstverwirklichung oder Unterhaltung, dann ist es eine schlechte Umschreibung. Tatsächlich kam im Osten Geschichte, sowohl in ihren Verheißungen wie Zerstörungspotenzialen auf die Bühne, es musste niemand krampfhaft eine Aktualität in die Tragödie erst hinein interpretieren – sie ereignete sich doch in der Realität.

Matthes beklagt im Gegenzug die »bestimmte Art von Burschikosität, von Kittelschürzenhaftigkeit« der Ost-Schauspielerinnen. Da kann er wohl kaum an Inge Keller gedacht haben, die ihm nicht nur in Sachen Kunstfertigkeit immer noch einiges voraus hat, sondern auch an Demut einem Hause gegenüber, dessen große Tradition nicht erst mit der DDR begann.

Dass sie nicht mit ihr endete, ist nun auch Matthes' Verdienst. Immer dann – auf der Bühne und außerhalb – überzeugt er, wenn er es sich schwer und nicht leicht macht. Zum Glück hat er darin einen Regisseur gefunden, der selbst gerade, trotz Krankheit, eine erstaunliche Alters-Metamorphose durchlebt: Jürgen Gosch.

Da treten dann zaghaft die großen Sinn-Fragen der Kunst heran – Eros, Krankheit, Tod. Ulrich Matthes, der am heutigen Samstag fünfzig wird, versucht Brücken in diese grundsätzlichen Regionen zu bauen, vor denen doch jeder anders allein steht, er zitiert Heiner Müller: »Kunst aber stammt aus und wurzelt in der Kommunikation mit dem Tod und den Toten. Es geht darum, dass die Toten ihren Platz bekommen.«

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