Lehrstück der politischen Moral

Schwarzbraun gegen Heinemann. Erinnerung an die Präsidentenwahl 1969: CDU akzeptierte Hilfe durch NPD

  • Conrad Taler
  • Lesedauer: 7 Min.
Zeichnung: Harald Kretzschmar
Zeichnung: Harald Kretzschmar

Nach Meinung des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« steht die Bundesrepublik Deutschland vor der »wohl spannendsten Präsidentschaftswahl ihrer Geschichte«. Horst Köhlers Vorsprung schrumpfe, die Union werde nervös. In der Tat – spannend kann die Wahl werden, aber kaum so spannend wie die Präsidentenwahl vom 5. März 1969, die sich über acht Stunden hinzog, ehe im dritten Wahlgang fest stand, dass der Sozialdemokrat Gustav Heinemann über den Unionskandidaten Gerhard Schröder gesiegt hatte.

Schröders ehemalige Mitgliedschaft in der NSDAP spielte dabei keine Rolle. Schließlich gehörte auch der damalige Bundeskanzler der Großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, früher der Nazipartei an. Hierzulande ein Kavaliersdelikt. Wer sich daran stoße, schrieb Axel Springers konservative Zeitung »Die Welt« zur NS-Vergangenheit des Unionspolitikers, der bringe sich »in klaren Gegensatz zum deutschen Volk«. Diese Schwamm-drüber-Mentalität, die der westdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft wie ein Krebsgeschwür anhing, wirkte sich auch bei der Präsidentenwahl von 1969 aus. Den Ausschlag zu Gunsten des SPD-Kandidaten hatte die FDP gegeben, die mit ihren 83 Stimmen für Heinemann votierte.

Bei der Wahl am 23. Mai dieses Jahres wollen die Freien Demokraten den CDU-Kandidaten unterstützen. Zusammen verfügen FDP und CDU/CSU in der Bundesversammlung über 604 Stimmen. SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen verfügen ebenfalls über 604 Stimmen. Zünglein an der Waage sind die zehn Delegierten der Freien Wähler. Auch die beiden Stimmen der NPD und der DVU können den Ausschlag geben. Für einen Sieg ist im ersten und im zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit von 613 Stimmen erforderlich. Im dritten genügt die relative Mehrheit. SPD-Kandidatin Gesine Schwan braucht nicht nur die Unterstützung der Linkspartei, sondern sie muss auch einige Stimmen aus dem bürgerlichen Lager zu sich herüber ziehen.

Seit dem Kesseltreiben gegen Andrea Ypsilanti sind die Stimmen der LINKEN mit einer Art Bannfluch belegt: Wer sich ihrer bedient, mache sich abhängig von Kommunisten und ebne den Weg ins sozialistische Chaos. Nun ist freilich die Zeit, da die große Mehrheit die Linkspartei als altkommunistische Bedrohung empfand, nach Auskunft der Meinungsforscherin Renate Köcher vorbei. Die alten Klischees hält auch der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach für überholt. Es sei »völlig unangemessen«, gegen eine demokratisch gewählte Partei wie die LINKE das Verdikt zu erheben, sie sei nicht koalitionsfähig, erklärte er. Aber selbst »der Spiegel« war sich nicht zu schade für die provozierende Frage an Gesine Schwan, ob sie sich »von ehemaligen Inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit« ins höchste Staatsamt wählen lassen wolle.

Als die SPD-Kandidatin später auf die Möglichkeit sozialer Unruhen als Folge der Wirtschaftskrise hinwies, blieb es nicht mehr bei solchen Sticheleien. Angefangen von der CSU, die sie zum Rücktritt von der Präsidentschaftskandidatur aufforderte, bis hin zur Bundeskanzlerin und zum Bundespräsidenten fielen alle über Schwan her. Und niemand aus den eigenen Reihen sprang ihr zur Seite. Verlegen lächelnd beobachteten die Damen und Herren der Parteispitze das Geschehen, paralysiert anscheinend von dem Gedanken, jedes Wort könnte ihnen die Rückkehr in eine Große Koalition unter Angela Merkel nach der Bundestagswahl im September verbauen.

Nur aus der norddeutschen Provinz war eine einsame Stimme zugunsten von Gesine Schwan zu vernehmen. Sie stehe mit ihren gesellschaftlichen Vorstellungen ganz in der Tradition Gustav Heinemanns, meinte der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft, Carsten Sieling, nach einem Gespräch mit der Kandidatin in der Hansestadt.

Parallelen gibt es auch in anderer Hinsicht. So wie jetzt Gesine Schwan sah sich auch Gustav Heinemann vor der Wahl diffamierenden Angriffen ausgesetzt. Warnend wies der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dr. Ernst Müller-Hermann, seine Parteifreunde darauf hin, dass die Wahl von Heinemann in das höchste Staatsamt »das Symbol für einen allgemeinen Linksruck in der Bundesrepublik« wäre. Das CSU-Organ »Bayern-Kurier« schrieb unter Anspielung auf Heinemanns kurzzeitige Zugehörigkeit zur pazifistischen Gesamtdeutschen Volkspartei: »Heinemanns Gesamtdeutsche Volkspartei trieb es auch mit Kommunisten und Linksextremisten«. Es dränge sich »die Frage nach dem Verhältnis dieses Mannes zu dem Staat auf«, den er in aller Welt repräsentieren wolle.

Aber Heinemann wurde gewählt. Erstmals bekleidete ein Sozialdemokrat das höchste Staatsamt der Bundesrepublik Deutschland. Konsterniert knirschte Franz Josef Strauß, das sei »keine glorreiche Entscheidung«. Über eines aber sprach niemand – über die Unterstützung des CDU-Kandidaten durch die 22 Wahlmänner der NPD. Ohne Widerspruch akzeptierten die Unionsparteien die Schützenhilfe einer Partei, die sich nach den Urteilen mehrerer Gerichte politisch in der Nähe der NSDAP bewegte und der zu Recht vorgeworfen werden durfte, sie sei »antidemokratisch, neonazistisch und rechtsradikal«. Auch die SPD schwieg. Nur einer ging fernab der Bundeshauptstadt öffentlich mit dem Verhalten der CDU/CSU ins Gericht. In Stuttgart bezeichnete es der sozialdemokratische Abgeordnete Kern in einer Rundfunksendung als »bestürzend und erschreckend«, wie gelassen die CDU bereit gewesen sei, mit der NPD als Zünglein an der Waage ihren Kandidaten durchzubringen. Kaum auszudenkender innen- und außenpolitischer Schaden wäre die Folge gewesen, wenn der neue Präsident mit Hilfe der Nationaldemokratischen Partei gewählt worden wäre.

Die schwarz-braune Stimmkoalition bei der Präsidentenwahl war kein Einzelfall. Nach der Kommunalwahl in Niedersachsen verbündete sich die CDU 1968 unter anderem in Peine und in Bissendorf mit der NPD, um sozialdemokratische Bürgermeister zu verhindern und eigene Kandidaten durchzubringen. 1970 paktierte sie im Landtag von Rheinland-Pfalz mit der NPD, um gegen den Willen des Koalitionspartners FDP ein konservatives Hochschulgesetz zu erzwingen. In der Bremischen Bürgerschaft überstimmten CDU und FDP gemeinsam mit der NPD die regierenden Sozialdemokraten bei der Regelung eines Verfahrens für die Benennung von Hochschullehrern, und einen Monat vor der Landstagswahl in Baden-Württemberg am 23. April 1972 peitschten CDU und NPD in einer gemeinsamen Front eine Änderung des baden-württembergischen Hochschulgesetzes durch den Stuttgarter Landtag, in dem die Nationaldemokraten, die 1968 die Fünf-Prozent-Hürde mit einem Stimmenanteil von 9,8 Prozent locker übersprungen hatten, mit 12 Abgeordneten vertreten waren.

Um die Position der CDU im Kampf gegen die Ostverträge zu stärken, verzichtete die NPD bei der Landtagswahl auf eigene Kandidaten und rief ihre Anhänger auf, CDU zu wählen. Deren Stimmenanteil erhöhte sich dadurch fast exakt um jenen Prozentsatz, den die NPD 1968 erreicht hatte; er stieg von 44,2 auf 53 Prozent. Zwar hatte die CDU zur Wahrung des eigenen Gesichts vor der Wahl erklärt, sie bedürfe nicht der Unterstützung durch die NPD, aber ohne diese Unterstützung hätte sie die absolute Mehrheit niemals erreicht.

Am 17. Mai stand die entscheidende Abstimmung über die Ostverträge auf der Tagesordnung. Geplagt von der Sorge, das Wohlwollen der Westmächte zu verspielen, enthielten sich die Unionsparteien der Stimme und verhalfen so den Verträgen von Moskau und Warschau zur erforderlichen Mehrheit. Schockiert sprach das NPD-Blatt »Deutsche Nachrichten« vom »schmählichsten Betrug am Wähler«. Die »Deutsche Nationalzeitung« des DVU-Vorsitzenden Frey rief nach einer »Quittung« für die »Schurkereien« der CDU/CSU. Dennoch hielt es der Herausgeber des rechtsextremistischen Blattes für geboten, die Unionsparteien bei der bevorstehenden Bundestagswahl zu unterstützen. Er selbst werde jedenfalls beide Stimmen der CSU geben.

Wurde der CDU/CSU wegen dieser anrüchigen Wahlhilfe und einer Vielzahl von Stimmbündnissen mit der NPD von ihren parlamentarischen Gegner jemals vorgeworfen, »Steigbügelhalter der Rechtsextremisten« zu sein? Nein, so geht man in Deutschland nur mit den Linken um. Unberührt von jeder politischen Moral erwarten die gleichen Leute, die bei der Präsidentenwahl vor 40 Jahren mit größter Selbstverständlichkeit die Unterstützung durch die NPD hingenommen haben, dass die SPD-Kandidatin bei der Präsidentenwahl am 23. Mai die Stimmen der LINKEN zurückweist – so, als wären es ähnlich den »Personen minderen Rechts« unseligen Angedenkens »Stimmen minderen Rechts«. Aber so weit sind wir noch nicht.

Conrad Taler, Jahrgang 1927, lebt in Bremen und arbeitet als Journalist und Essayist für in- und ausländische Zeitungen.

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