Der Wert des Lebens

Heute entscheidet der Bundestag über eine Verschärfung der Regelung von Spätabtreibungen. Am Alltag von Eltern mit behinderten Kindern geht die Debatte vorbei

  • Simone Schmollack
  • Lesedauer: 7 Min.

Irgendwann wird die Ärztin ganz still und lässt auf dem Bauch von Kathrin L.* den Scanner immer wieder von einer Seite zur anderen gleiten. »Was ist?«, fragt Kathrin L. Sie ist 32 Jahre alt und fast im fünften Monat schwanger. Die Gynäkologin antwortet nicht sofort, sie will sich sicher sein. Und sie weiß, was sie ihrer Patientin mit einer Antwort zumutet: Kathrin L. hat schon einen Sohn, Benjamin ist drei und behindert. Das zweite Kind, ein Mädchen, ist eine neue Hoffnung. Oder doch nicht? Denn es sieht ganz so aus, als sei auch dieses Baby nicht gesund.

In der Familie von Kathrin L. wird ein Gendefekt vererbt. Das kommt nicht häufig vor. Kathrin L. ist das fünfte Mal schwanger; drei Kinder verlor sie aufgrund des Genfehlers schon in den ersten Wochen. Auch die waren behindert. »Die Natur sondert von selbst aus«, erklärt ihre Frauenärztin.

Druck auf Ärzte und auf die Frauen

Kathrin L. und ihr Mann Gert wissen nicht weiter. Sie haben sich gefreut über die Schwangerschaft, die blieb und die anfangs Normalität, Gesundheit versprach. Was sollen sie jetzt tun? Abtreiben? Ihr Leben ist so schon schwer genug.

Benjamin wird nie laufen können, nicht sprechen, nicht allein essen, er benötigt Pflege rund um die Uhr. Andere behinderte Kinder sind nicht so stark eingeschränkt wie er. Manche mit der Diagnose Trisomie 21, auch Downsyndrom genannt, lernen sogar Lesen und Schreiben. Wenn im Mutterleib ein Defekt am Fötus festgestellt wird, kann niemand wissen, wie stark das Kind später behindert sein wird. Trotzdem brechen 90 Prozent der betroffenen Mütter die Schwangerschaft ab, wenn sie erfahren, dass ihr Kind nicht gesund zur Welt kommen wird.

Das soll jetzt erschwert werden, geht es nach dem Willen einiger Politiker. Seit mehr als einem Jahr verhandeln sie über eine gesetzliche Neuregelung der so genannten Spätabtreibungen. Zwar hat es 2008 bundesweit lediglich 231 Abbrüche nach der 23. Schwangerschaftswoche gegeben. Aber das hielt Johannes Singhammer, familienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, bis vor einigen Monaten nicht davon ab, Spätabtreibungen gesetzlich verbieten zu wollen.

Singhammers Radikalität stieß selbst bei der Union und bei einigen konservativen SPD-Abgeordneten auf Gegenwehr. Es folgten verschiedene Gegenentwürfe; zwischenzeitlich waren es vier, einige wurden zu Gruppenanträgen zusammengefasst. In der vergangenen Woche ließ der Familienausschuss des Bundestages zwei fraktionsübergreifende Gesetzentwürfe passieren. Einer davon stammt von Johannes Singhammer (CSU), Kerstin Griese (SPD), Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und Ina Lenke (FDP). Er findet bisher die meiste Zustimmung und sieht vor, Ärzte zu einer Beratung betroffener Schwangerer und zur Vermittlung in psychosoziale Beratungsstellen zu verpflichten. Tun die Ärzte das nicht, droht ihnen ein Bußgeld in Höhe von 5000 Euro. Außerdem schreibt das Papier eine dreitägige Bedenkfrist zwischen Beratung und Abbruch vor.

Der andere Entwurf, der vor allem von SPD-Abgeordneten unterstützt wird, ist liberaler. Er sieht lediglich einen Hinweis des Arztes auf eine Beratung vor und den Ausbau von Beratungsstellen. Ein Bußgeld lehnt das Papier ebenso ab wie eine Bedenkzeit.

Ein dritter Antrag von der Linksfraktion geht noch weiter und will keine gesetzlichen Änderungen. Die Fraktion fordert aber ebenso den Beratungsausbau. »Wir wollen, dass jede Frau selbst entscheiden kann, ob und wann sie eine Schwangerschaft abbricht«, sagt Kirsten Tackmann, frauenpolitische Sprecherin. Heute will der Bundestag abstimmen.

An Kathrin und Gert L. läuft diese Debatte vorbei. Sie sind damit beschäftigt zu entscheiden, was nun werden soll. Das müssen sie rasch tun. Je weiter die Schwangerschaft fortschreitet, um so schwieriger wird es für die Eltern und um so komplizierter wird ein Abbruch. Bis zur 16. Woche ist eine Ausschabung möglich, dann ist der Fötus noch klein genug. Danach muss er auf natürlichem Wege geboren werden – dafür wird die Geburt so früh wie möglich eingeleitet. Das ist nicht nur für die Eltern eine große psychische Belastung, sondern kann auch mit Komplikationen verbunden sein.

Zum Skandal wurde 1998 die Geburt von Tim, der als das »Oldenburger Baby« in die Medizingeschichte einging. Der Junge hatte Trisomie 21, seine Eltern hatten sich für eine Spätabtreibung entschieden. Die Geburt wurde eingeleitet, aber das Kind kam nicht, wie die Ärzte erwartet hatten, tot zur Welt, sondern überlebte noch mehrere Stunden. Von den Krankenhausangestellten wurde der Fötus in Tücher gehüllt, alle lebenserhaltenden Maßnahmen wurden verweigert.

»Das eigentliche Problem«, sagt Ines Scheibe, »ist nicht die Spätabtreibung, sondern der Druck, der jetzt ausgeübt wird, auf Ärzte und auf Frauen.« Die Psychologin leitet in Berlin die Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle des Humanistischen Verbandes. Jeden Tag beraten sie und ihre beiden Kolleginnen schwangere Frauen, die sich entscheiden müssen, ob sie zu diesem Zeitpunkt ein Kind bekommen oder nicht. Spätabtreibungen kommen so gut wie nie vor. »Ein Arzt ist überfordert, wenn er einer Frau sagen soll, wie das Leben mit einem behinderten Kind aussieht. Er kann medizinische Fakten erklären, aber selten psychologische Hilfe leisten«, sagt Ines Scheibe.

Was sollte die Gynäkologin Kathrin und Gert L. auch schon sagen? Dass der Alltag mit zwei behinderten Kindern gar nicht so schwer ist? »Wir können nachts kaum schlafen, weil Benjamin im Liegen oft hustet und röchelt und wir Angst haben, dass er erstickt«, erzählt Kathrin L.

Eigentlich ist Spätabtreibung kein Thema für ein Parlament, weil die Fragen, die darum kreisen, weniger politische sind, sondern eher moralische. Das sehen auch manche Juristen so. »Die Tötung des Ungeborenen ist in einer solchen Situation rechtlich erlaubt und ethisch geboten«, ist beispielsweise Reinhard Merkel, Rechtsphilosoph und Professor für Strafrecht an der Universität Hamburg, überzeugt. »Es gibt ein Recht auf Nicht-Wissen«, sagt Kirsten Tackmann. »Man kann Eltern nicht zu einem kranken Kind zwingen«, meint die Ärztin von Kathrin L. Und sie mahnt: »Kommt es zu einer Verschärfung des Gesetzes, fördert das nur den Abtreibungstourismus.«

Abtreibungstourismus gab es in der alten Bundesrepublik schon einmal. Im Gegensatz zur DDR, wo bis 1990 die Fristenregelung galt und Frauen bis zur zwölften Woche bedingungslos Abbrüche vornehmen lassen konnten, stand Abtreibung in der BRD unter Strafe. Der Paragraf 218 verfolgte sowohl Frauen, die abgetrieben haben, als auch Ärzte, die den Eingriff vornahmen. Deshalb reisten westdeutsche Frauen, um abzutreiben, bis dahin vor allem ins liberale Holland. Dabei ging es nicht um Spätabtreibungen, sondern um »normale« Abbrüche.

1993 trat in der größer gewordenen Bundesrepublik nach jahrelangen Debatten eine modifizierte Fristenlösung in Kraft, mit verschiedenen Auflagen vor allem für die Frauen, beispielsweise einer Pflichtberatung. Eine Verbesserung für den Westen, eine Verschlechterung für den Osten.

In der alten Bundesrepublik hatte ein Krieg getobt zwischen Frauen, die selbst entscheiden wollten, wann sie Mutter werden, und den so genannten Lebensschützern. Manche von ihnen sprechen auch bei der aktuellen Debatte um Spätabtreibungen wieder von »Sterbehilfe für Babys«.

»Im Grunde geht es um Paragraf 218«

Der Zeitgeist scheint sich verändert zu haben. 86 Prozent der Bundesbürger sind heute der Meinung, dass es unverantwortlich ist, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen. Das fand eine Studie für Frauengesundheitsforschung am Universitätsklinikum Münster heraus. Der Grund: Für Behinderte werde nicht sonderlich viel getan, Behinderte seien eine Randgruppe in der Gesellschaft.

Tatjana Z. aus Dresden erlebt das fast täglich. Ihre Tochter Maja wurde vor neun Jahren tot geboren. Die Ärzte konnten sie wiederbeleben. Mit dem Ergebnis, dass Maja mehrfach schwerstbehindert ist. Als die Mutter vor einem Jahr bei ihrer Krankenkasse einen neuen Rollstuhl für das Kind beantragte, wurde der abgelehnt. Die 44-Jährige schleppte ihre 45 Kilo schwere Tochter ins Büro der Krankenkasse und fragte: »Wie soll das gehen ohne Rollstuhl?« Und dann schrie sie: »Die Wiederbelebung eines totes Babys bezahlen Sie, aber nicht die Folgen.«

Johannes Singhammer argumentiert gern mit dem Schutz des ungeborenen und mit dem Wert des behinderten Lebens. Seine Partei aber, die CSU, ist nicht unbedingt bekannt dafür, dass sie für die Verbesserung von Bedingungen für Behinderte kämpft. Wie passt das alles zusammen? Für Ines Scheibe liegt die Antwort ganz woanders: »Im Grunde geht es nicht um Spätabtreibungen, die sind nur Mittel zum Zweck. Vermutlich soll letztendlich der Paragraf 218 gekippt werden.« Das argwöhnen auch Frauenrechtlerinnen. Es wäre eine Katastrophe.

* Name geändert

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