»Ich lade Sie zu uns nach Gaza ein: Bilder sagen mehr als Worte«

Ashraf Sahwiel über Kunst und Künstler im Krieg

  • Lesedauer: 6 Min.
Ashraf Sahwiel ist Kulturjournalist und auch selbst künstlerisch tätig. Außerdem ist er Leiter des Künstlerzentrums von Gaza. Über Kulturarbeit in einem Land unter Bombenkrieg und fast totaler israelischer Blockade sprach mit ihm Susann Witt-Stahl.
Ashraf Sahwiel
Ashraf Sahwiel

Über den israelischen Krieg im Gaza-Streifen, die enorme Zerstörung und die Notlage der Bevölkerung wurde in den vergangenen Monaten viel berichtet. Kaum gesprochen wird über die Situation der Künstler und Kulturschaffenden dort. Über das Kulturleben, die Kunsterziehung und die kulturellen Einrichtungen in Gaza ist hierzulande nur wenig bekannt. Wie erging es den Künstlern während des Krieges und was geschah danach? Was denken sie – hoffen sie noch auf ein Ende der israelischen Blockade und einen stabilen Frieden?

ND: Ashraf Sahwiel, Sie leiten das Kulturzentrum in Gaza. Was geschah mit dem Künstlerzentrum während des Krieges vor wenigen Monaten?
Sahwiel: Das Gebäude blieb unbeschädigt. Die Mitarbeiter hatten das Zentrum einen Tag vor Beginn des Krieges geräumt und die Einrichtung an einen anderen Ort gebracht. Nach Kriegsende haben israelische Flugzeuge das Nebengebäude bombardiert.

Der Mitarbeiterstab ist einsatzfähig. Aber einige seiner Mitglieder haben sehr großes Leid erfahren. Ziad Deeb, ein 22-jähriger Student, verlor beide Beine durch Mörsergranaten, die in der Nähe der Fakhoura-Schule in Jabaliya einschlugen. Seine Familie wurde nahezu ausgelöscht.

Unser Schatzmeister Ihsan Abu Shareek verlor seine Wohnung im Al-Anduls-Tower, der bei einem Raketen-Luftschlag von F-16-Kampfjets zerstört wurde. Mein eigenes Haus, das etwa 100 Meter entfernt von einigen Regierungsgebäuden liegt, wurde beschädigt. Wir haben das Haus rechtzeitig verlassen und sind zu der Familie meiner Frau geflohen. So blieben meine Babys unverletzt – sie haben während der Explosionen geschlafen.

Die Künstlerin Sa’da Radi bereitete gerade eine Ausstellung vor, als alle ihre Bilder bei dem israelischen Panzerraketen-Angriff auf das Palästinensische Rote-Halbmond-Zentrum verbrannten. Unsere Vizepräsidentin Tagreed Bleha und ihre Familie lebten im Zahraa-Tower, der etwa in der Mitte des Gaza-Streifens liegt, eine Woche lang ohne Wasser- und Energieversorgung, ohne Nahrung und Milch für ihre Kinder. Danach jagten die israelischen Soldaten die Familie hinaus in die Kälte und in den Regen. Sie besetzten ihre Wohnung, um von dort aus auf Palästinenser zu schießen.

Die israelische Regierung behauptet, ihre Armee hätte Zivilisten und zivile Einrichtungen verschont.
Die Soldaten waren sehr aggressiv, sehr brutal und grausam. Sie trieben die Menschen aus den Gebäuden. Rund 6000 fanden Zuflucht in der UN-Schule. Ihre Häuser wurden komplett zerstört. Nun leben sie in Zelten.

Was ist das Gaza-Zentrum für Kultur und Künste? Wann wurde es gegründet, und wie ist es strukturiert?
Das Zentrum wurde 2005 in Gaza-Stadt eröffnet. Es ist regierungs- und parteiunabhängig und arbeitet nichtkommerziell. Es ist allerdings verpflichtet, mit der Regierung in administrativen Fragen zusammenzuarbeiten. Seit 2006 wird es von einem siebenköpfigen Gremium geleitet, dem ich vorstehe und das alle drei Jahre neu gewählt wird. Wir konzentrieren unsere Arbeit auf kulturelle und künstlerische Projekte.

Wie wird das Zentrum finanziert?
Es trägt sich ausschließlich durch Spenden und Zuschüsse von zivilen Institutionen.

Welche Aufgaben hat es sich gesetzt?
Wir wollen die Kunst und Kultur der palästinensischen Gesellschaft in ihren verschiedenen Formen und Stilen veröffentlichen und verbreiten. Dabei richten wir ein besonderes Augenmerk auf die Bedeutung von Kunst und Kultur als Träger der zivilisatorischen Mission.

Wir haben uns zum Ziel gesetzt, zivilgesellschaftliche Institutionen aufzubauen, um unser kulturelles Erbe zu bewahren. Wir möchten in der Gesellschaft das Bewusstsein für Demokratie, für Menschenrechte und für Völkerrechte stärken. Es geht uns aber auch darum, künstlerische Bewegungen und die Entwicklung unserer Medien zu fördern. Wir wollen die Kreativität der Menschen entfalten und ihre künstlerischen Fähigkeiten ausbilden – darin unterstützen wir vor allem Kinder, Jugendliche und Frauen.

Welchen Zweck hat Kunst für Sie?
Als l’art pour l’art (Kunst um der Kunst willen) und als Ausdruck des Leidens von Palästinensern.

An welchen Projekten arbeitet das Zentrum – können Sie einige Beispiele nennen?
Wir bieten Kurse für visuelle Künste an. Den Teilnehmern werden Techniken mit Kohlestift, Bleistift, Öl- und Wasserfarben vermittelt. Es gibt Seminare für kreatives Schreiben und Workshops, in denen Jugendliche Folkloretänze oder den palästinensischen Tanz Dabke lernen können. Wir organisieren regelmäßig Ausstellungen. In Kooperation mit dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge haben wir ein Drachenfestival für Kinder veranstaltet.

Zurzeit bereiten wir ein Projekt unter dem Titel »Jerusalem – Hauptstadt der arabischen Kultur 2009« vor, das von der palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah finanziert wird.

Was ist das für ein Projekt?
30 Künstler werden ein Wandbild malen. Wir zeigen aber auch Dokumentarfilme, und Schriftsteller werden kulturelle und historische Zeugnisse der palästinensischen Nation präsentieren.

Haben Sie internationale Kontakte? Gibt es Ausstellungen außerhalb Palästinas und Austausch mit israelischen Künstlern?
Bisher haben wir nur Kontakte zu jordanischen Künstlern und arabischen Künstlern in Israel. Ausstellungen außerhalb des Gaza-Streifens gab es bisher nur auf der palästinensischen Westbank.

Welche Auswirkungen hat die anhaltende israelische Blockade des Gaza-Streifens auf Ihre Arbeit?
Es herrscht ständiger Mangel. Viele Farben, Baumaterial, Musikinstrumente, elektronische Geräte wie LCD und Computer sind nicht erhältlich oder sehr teuer. Seit die Rote-Halbmond-Bühne abgebrannt ist, haben wir nicht mehr genug Aufführungsräume.

Das dringlichste Problem jedoch ist unser Budget. Es beträgt umgerechnet rund 1400 Euro monatlich. Viele unserer Unterstützer haben seit dem Krieg kein Einkommen mehr und können somit auch kein Geld mehr spenden. Das Zentrum ist in einer ernsten finanziellen Notlage.

Was erwarten Sie von der neuen israelischen Rechtsregierung?
Mit ihr wird es keinen Fortschritt im Friedensprozess geben. Sie verweigert einen aufrichtigen Dialog. Damit will sie die palästinensische Führung vor den Palästinensern bloßstellen und ihre Autorität untergraben. Auch die Regierungsbeteiligung der Arbeitspartei wird an der verfahrenen Lage nichts ändern. Die USA müssen den Friedensprozess retten.

Welchen Beitrag könnten die Europäer leisten, damit die Situation der Palästinenser sich verbessert?
Sie könnten eine Menge tun. Bisher hat die EU den Friedensprozess nicht ernsthaft vorangetrieben. Sie hat die Autonomiebehörde zu wenig unterstützt, obwohl diese die rechtmäßige Vertretung der Palästinenser ist. Sie könnte Druck auf Israel ausüben, die Verhandlungen mit Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas weiterzuführen. Sie könnte erwirken, dass die Grenzen geöffnet werden, dass die Blockade des Gaza-Streifens beendet wird. Wir warten darauf, dass die Europäer den Palästinensern zu ihrem Recht auf Selbstbestimmung verhelfen.

Haben Sie noch Hoffnung?
Ja, ich habe noch die Hoffnung, dass wir unsere Freiheit, unsere Rechte erlangen und eines Tages als eine Nation existieren können, wie andere Völker auch. Und diese Hoffnung will ich nicht verlieren – solange ich lebe.

Haben Sie eine Botschaft für die Leser in Deutschland?
Bitte vertrauen Sie nicht den israelischen Medien, die Israel als Opfer darstellen. Informieren Sie sich über die Fakten durch unabhängige Quellen.

Die Menschen hier brauchen Ihre Sympathie, Ihre Aufmerksamkeit, Ihre Hilfe. Ich lade alle internationalen Künstler ein, dem Leiden unserer Bevölkerung unter dem israelischen Militärapparat Ausdruck zu verleihen. Bilder sagen mehr als Worte.

Im Gaza-Zentrum für Kultur und Kunst wird auch gesungen – selbst wenn es im Raum viel zu eng dafür ist.
Im Gaza-Zentrum für Kultur und Kunst wird auch gesungen – selbst wenn es im Raum viel zu eng dafür ist.
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