Horizonterweiterung

prime time theater eröffnete neuen Spielort

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Heiligenschein über der »Blumenkinder-Zeit« wird übermütig weggepustet. In der Inszenierung »The Friecks – eine Rockstory« von Constanze Behrends Tautorat demonstriert Rainer für die Freiheit der Drohnen im Bienenstock: »Honig für alle! Reißt die Waben nieder!« Bob mixt dauernd neues Kraut zum Rauchen. Möchtegerndichter Jim raucht das Zeug, erlebt aber keine Bewusstseinserweiterung. Ulrike verbrennt ihren BH als revolutionäre Tat, und Uschi kommt geistig nicht hinterher. Allesamt bewegen sie nichts – außer sich alle zusammen beim Sex. Ein Gehirn wäscht das andere. Und während die drei Jünglinge eine Band gründen und auf Tournee gehen, hat »Das Senderfreie Berlin«-TV-Programm zu melden, dass Jugendliche mit Lampen durch die Stadt ziehen und auf Erleuchtung warten. Immerhin haben sie Vergnügen daran, während später »Spaß haben« zur Worthülse wird.

Das prime time theater eröffnete mit der Geschichte über Erfolg und Stagnation der Rockband seine neue Spielstätte – nur ein paar Schritte entfernt von der bisherigen Bühne in der Müllerstraße. Weithin sichtbar ist das Entree. 210 Plätze gibt es nun, ein großes Foyer, eine größere Bühne und viel neue Technik. Das Theater zeigt seine Produktionen von nun ab im W.E.L.T.-Format (Wedding Entertainment Live Television). Bühne, Film und Realität sollen sich fröhlich vermischen.

Diesem Füllhorn neuer Ideen sah sich das an Gemütlichkeit gewöhnte Publikum bei der Uraufführung der Rockstory noch nicht gewachsen. Es jubelte wie immer am Schluss, hielt sich jedoch angesichts der »neumodschen Horizonterweiterung« mit gewohntem Szenenapplaus zurück, obwohl Oliver Tautorat, Constanze Behrends Tautorat, Kaan Satik, Alexander Ther und Jenny Bins in guter Form spielten. Möglicherweise wäre die Premiere einer neuen Folge der beliebten Theatersitcom »Gutes Wedding, schlechtes Wedding« (GWSW) zu Beginn am neuen Ort klüger gewesen. Doch nun ist die Verhonepipelungsaktion der 68er Rockerzeit in vollem Gange. Am 12. Juni wird sich dann der Weddinger Familienclan mit der neuen Bühne arrangieren – bei der 59. GWSW-Folge »Janz weit draußen«.

Die Theatermacher arbeiten mit Projektionstechnik, die viele Tricks erlaubt. So kann hinter der Spielfläche Film ablaufen. Bei »The Friecks« sieht man beispielsweise Demonstranten agieren, die für Jims Freiheit unterwegs sind, den man in den Knast gesteckt hat. Hinter der Projektionswand wiederum lässt sich gut mit Schatteneffekten arbeiten. Die Bühne hat jetzt zwei Türen, die bestimmt besser mitspielen würden, wenn sie keine Klinken hätten und pendeln würden, denn sie werden wohl öfter benutzt als in jedem anderen Theater der Welt. Die Akustik hatte bei der Uraufführung noch Macken.

Doch man kann sicher sein, dass sich alles zum Besten entwickelt, denn das prime time theater reagierte bisher immer sensibel auf Reaktionen des Publikums. Das will sich wohlfühlen. Nach Perfektionismus hat es nie verlangt. An guten Wünschen für den Start am neuen Ort aber fehlte es nicht. Die SPD-Landeszentrale, in deren verkauftem Gebäudeteil das Theater gelandet ist, soll einen Toaster geschenkt haben, der Brotscheiben, die man da arglos reinsteckt, mit drei Großbuchstaben brandmarkt. Und da sage noch einer, im prime time theater denke man sich absurde Sachen aus. Die Realität ist ja gar nicht einzuholen.

prime time theater, Müllerstraße 163, Eingang Burgsdorfstr., Wedding, Fr.-Di. 20.15 Uhr

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal