Utopien im Labyrinth

Kai Ehlers prüfte den Herzschlag einer Weltmacht: Russland

  • Wladislaw Hedeler
  • Lesedauer: 3 Min.
Basilius-Kathedrale
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Seit 1983 zieht es Kai Ehlers immer wieder in die UdSSR, zunächst wandte er sich den Metropolen zu, später der russischen Provinz und den Nachfolgestaaten. Stets in Begleitung sachkundiger russischer Freunde erschlossen sich ihm Innenansichten, die gewöhnlichen Touristen verborgen bleiben. Seinem, mit einer Sympathieerklärung an das unabhängige und sich selbst genügende Land eingeleiteten Bericht liegen die während dieser Entdeckungsreisen geführten Gespräche mit Jefim Berschin, einem russischen Poeten und Journalistenkollegen, zu Grunde. Dreh- und Angelpunkt ihrer Reflexionen in den abgedruckten Briefen und Plaudereien über die noch andauernde Transformation sind Utopien und Alternativen in Zeiten der Wirren. Ehlers bewegt sich wie Viktor Jerofejew in einem »Labyrinth der verfluchten Fragen«. Sein russischer Freund und Reisebegleiter versucht sich wie vor ihm Boris Groys und andere Intellektuelle an der »Erfindung Russlands«.

Auffällig ist, dass in den Gesprächen zwischen Ehlers und Berschin in der Regel von den Welten der einfachen Leute oder auch den Oligarchen und der Moskauer Eliten die Rede ist; das Parlament jedoch, das von den Mächtigen zur Schwatzbude degradiert worden ist, spielt kaum eine Rolle.

Westliche Maßstäbe passen nicht auf die russische Wirklichkeit von heute, nicht zur unter Putin eingeleiteten »autoritären Modernisierung«. Hier ist kein Platz für erfundene Moral und verlogene Propaganda, hier treten Übel und Tugenden völlig unverhüllt hervor. Eine der interessantesten Fragestellungen lautet: »Was ist das für eine Revolution, wenn der Mensch keine Selbstständigkeit erlangt, nicht zu sich selbst finden kann?«

Für Ehlers Gesprächspartner, den Dichter, beginnt Protest mit Ästhetik, nicht mit Streiks. Als dieser jedoch Putins Versuch, den Staat alten Typs zu restaurieren, verteidigt, reagiert der sonst sehr geduldige Ehlers schroff und abweisend. Das Gespräch droht abzubrechen, geht jedoch weiter, bis es erneut auf ein Hindernis stößt: Es ist die Mission des Landes, die der Poet seinem deutschen Freund zu erklären versucht. Ein weiteres Mal stockt es, als von Russland metaphorisch als einem Land der Selbstmörder die Rede ist. Jerofejew hatte im Prolog seines »Labyrinths« über seine Landsleute geschrieben: »Kein Bewußtsein von sich selbst als Ganzheit, als abgeschlossene, vollendete Form.« Für Ehlers liegt die Lösung in der Erweiterung der Fragestellung. »Es ist eine Pupertätskrise der menschlichen Gesellschaft, und nicht nur der russischen, eine allgemeine Krise, die eine neue Zukunft eröffnet.« Er sieht darin auch eine Chance für die Menschheit.

Zum Ende von Ehlers Buch erscheint Russland als Modell der Welt, als Entwicklungsland neuen Typs. Dieser Argumentationslinie folgend gibt es keine Gründe, Russland zu fürchten. »Dieses Land lebt heute in einer Symbiose von Tradition und Moderne und kann dies in Zukunft ausbauen«, heißt es in dem den Band abschließenden Brief. »Vor diesem Hintergrund bekommt die Frage einer möglichen ›Mission‹ Russlands ihre Brisanz, denn sie läuft auf die Überwindung der Konsumgesellschaft westlichen Typs hinaus. Das wäre eine Revolution … Konzentrieren wir uns also darauf, herauszufinden, welche Art von Revolution wir heute brauchen, wenn wir nicht alte Fehler wiederholen wollen.«

Kai Ehlers: Russland. Herzschlag einer Weltmacht. Pforte Verlag, Dornach 2009. 300 S., geb., 24,80 €.

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