nd-aktuell.de / 28.05.2009 / Kultur / Seite 10

'67: Nicht erklärter Notstand

Kurras und APO-Mythos

Gerhard Hanloser
Erwartet hatte man das nicht. Der Polizist, der den Studenten Benno Ohnesorg ungestraft am 2. Juni 1967 erschoss, fungierte als ein von der DDR angeworbener Spitzel in der Westberliner Polizei. Karl Heinz Kurras war SED-Mitglied, es existiert eine 17-bändige Stasiakte. Sofort griffen Spekulationen um sich, und der Konjunktiv regierte auf den Politik- und Feuilleton-Seiten: Hätte der Stasi-Mann nicht geschossen, wäre der Verlauf der Studentenbewegung ein anderer gewesen. Die Außerparlamentarische Opposition hate plötzlich nichts mehr mit der spezifischen Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik zu tun, sondern erscheint in mannigfaltigen Kommentaren als Produkt östlicher Geheimdienste.

Aber nichts ist widerlegt von dem, was die unabhängige, linke Untersuchungskommission des AStA der FU Berlin an Ergebnissen zum 2. Juni 1967 der damaligen Öffentlichkeit vorlegte. Schon im April 1968 erschien im von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen »Kursbuch« deren Dokumentation unter dem Titel »Der nicht erklärte Notstand«. Deutlich wird darin die von der Springer-Presse angeleitete, von West-Politikern geschürte und von der Bevölkerung willig aufgenommene Hetze gegen die demonstrierenden Studenten. Zum Schah-Besuch wurde eine Polizeitaktik zur Verhinderung von Protest angewandt, die mindestens Schwerverletzte in Kauf nahm. Der Schuss auf Benno Ohnesorg, so schließt die Kommission, sei keine Entgleisung eines schießwütigen Psychopathen, sondern »entstammt dem kalkulierten Risiko, das die Führung der politischen Polizei eingegangen ist.«

Doch auch wenn man den Spuren des »schießwütigen Psychopathen« folgt, bleibt Folgendes eine Tatsache: Geschossen hat Karl Heinz Kurras in seiner Funktion als Beamter der Politischen Abteilung I der Berliner Kriminalpolizei. Nach allem, was man weiß, ist es höchst unwahrscheinlich, dass er als Mitglied der Stasi oder als Agent Provocateur handelte. Eine Radikalisierung der Studentenbewegung hätte es schon alleine wegen der politischen Rahmenbedingungen und der Verlaufsform der APO in der BRD gegeben. Wie der Historiker Norbert Frei herausstellte, entstanden in allen post-faschistischen Staaten – Deutschland, Italien und Japan – aus der Studentenbewegung terroristische Gruppierungen. Die »Bewegung 2. Juni« hätte sich einfach einen anderen Namen gegeben, hätte Kurras nicht auf Ohnesorg geschossen.

Was ist also neu? Vielleicht, dass Kurras statt eines pathologischen Antikommunisten, wie man sie in der Berliner Polizei der Sechziger zuhauf antreffen konnte, ein Sozialist war? Wenn der nun 81-Jährige sich tatsächlich als Kommunist sah, dann hatte er auf jeden Fall einen anderen Begriff von Kommunismus als die Marx lesenden, rebellierenden Studenten. Eine gewisse Haltungslosigkeit muss Kurras darüber hinaus attestiert werden, wurde er doch nach Kriegsende wegen antisowjetischer Propaganda verurteilt. Und von »Bild« befragt, erklärte er vor Kurzem, seine Pro-DDR-Haltung habe er schon länger abgelegt. Gründe, für die DDR zu spitzeln, konnten vielfältig sein: Geld, Erpressbarkeit oder auch – Ironie der Geschichte –, weil man als national gestimmter Deutscher mehr mit dem Pro-Wiedervereinigungskurs der DDR-Staatsführung anzufangen wusste als mit den westlich orientierten BRD-Politikern. Man musste nicht zwingend Kommunist sein.

Kurras ist ein autoritärer Charakter, schallt es selbst aus Zeitungen, die den APO-Gründungsmythos nun wanken sehen. Doch war die Erkenntnis, es in Deutschland mit zu vielen autoritären Charakteren zu tun zu haben, nicht prägend für die antiautoritäre Bewegung? Welcher Mythos der APO wankt also?

Dass der Waffennarr und von allerhand Vernichtungswünschen angetriebene Kurras sowohl bei der Berliner Polizei als auch bei der Stasi sich für das einsetzte, was ihm als Staatssicherheit, Ruhe und Ordnung erschien, hätte zuletzt die Antiautoritären der APO verwundert. Der 68er-Aufbruch zu ganz anderen Ufern, zu einem Sozialismus des »aufrechten Gangs« (Ernst Bloch), wollte stets die Kalte-Kriegs-Ordnung überschreiten, die von Menschen wie Kurras geprägt war.

Gerhard Hanloser, Jg. 1972, ist Sozialwissenschaftler, er lebt in Freiburg i. Breisgau und veröffentlichte zahlreiche Bücher über Geschichte und Kritik linker Bewegungen.