Ich krieg' die Krise

Wie im Kleinen, so im Großen – und umgekehrt

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 6 Min.
»Wer als Zwiebel geboren wird, hat die Tränen im Haus.«
»Wer als Zwiebel geboren wird, hat die Tränen im Haus.«

Die weltweite Finanzkrise, ausgelöst durch Spekulationen, hat sich zur Krise der Weltwirtschaft ausgeweitet. Es ist die erste Weltwirtschaftskrise, die ich – ein Kind der DDR – nicht als Beobachterin erlebe. Allerdings erweist sich mein deutscher Alltag seit zwanzig Jahren als derart krisengeschüttelt, dass es nicht die Wirtschaftskrise ist, die mich nächtens um den Schlaf bringt.

Die Umgangssprache kennt ein Wort, das da lautet: Ich krieg' die Krise. Ich krieg' die Krise also öfter, und schön, mal darüber reden zu können. Als Ostberlinerin zieht es mich, gewöhnlich nach heißen Sommertagen, an denen die Hitze noch über der Stadt hängt, nicht in den Grunewald, nicht in den Tiergarten, sondern in den Friedrichshain, den Park mit den grünen Trümmerbergen. Jüngst wollte ich dort einen Kaffee trinken. Einen »Coffee to go«, wie es so schön heißt, also Kaffee im Plastikbecher. An einem Kiosk sollte ich dafür 2,80 Euro zahlen. Hallo? Das wären 5,40 D-Mark, 21,60 DDR-Mark – erinnern Sie sich noch: eins zu vier? So sollte man heute nicht mehr rechnen? Ich finde, es wäre der schlechteste Zeitpunkt, mit dem Rechnen aufzuhören. Ich kriegte die Krise und pfiff auf den Kaffee.

Wie im Kleinen, so im Großen. Alljährlich kriege ich die Krise, wenn die Mietkostenabrechnung ins Haus flattert. Meist wird eine Nachzahlung fällig: Aufschlag bei der Grundsteuer, Preissteigerung bei der Müllabfuhr, bei Straßenreinigung und Fernwärme, mehr Geld für die Haussäuberung (sauber ist das Haus leider nicht mehr, seit die Billigfirma unter Vertrag steht), Tariferhöhung für die Grünflächenpflege (der Vorgarten mit Koniferen und Stauden wurde letzten Herbst zu mickrigem flachem Rasen geebnet, wodurch sich der Pflegeaufwand deutlich reduziert haben dürfte). Nicht zu vergessen das »Niederschlagswasserentgelt«: Zum 1.1. dieses Jahres erhöhte es sich um 7,17 Prozent. Sie wissen nicht, wovon ich spreche? Gelegentlich pflegt es zu regnen. Sind wenig Grünflächen vorhanden, in denen der Regen versickert, fließt er in die Kanalisation. Dafür wird man zur Kasse gebeten. Warum nur muss ich an »Zwiebelchen« denken, jenes Buch, das mich als Kind in die Welt des Herrn Gurkenkürbis und des Ritters Tomate entführte, in eine Welt, die mir noch fremd war? Es stammt aus der Feder von Gianni Rodari. Rodari war ein italienischer Journalist, Kinderbuchautor und Kommunist. »Wer als Zwiebel geboren wird, hat die Tränen im Haus«, schrieb er. Bei Rodari habe ich gelesen: Man kann auch aufs Seufzen Steuern erheben. Ich hielt das damals für eine Mär.

Nicht nur in meiner, der Medienbranche, hat eine Praxis Einzug gehalten, die Menschen wie Zitronen ausquetscht und so Gewinne optimiert: Ein Zeitungsredakteur muss heute nicht mehr nur Artikel schreiben oder sie bei Autoren bestellen, nicht mehr nur Texte redigieren, nein, er muss auch die Illustrationen besorgen, ganze Seiten selbst layouten. So werden Fachkräfte »freigesetzt«, und denjenigen, die bleiben dürfen, immer mehr Tätigkeiten aufgebürdet – für die sie nicht bezahlt werden und für die sie nicht qualifiziert sind. Doch was billig scheint, hat seinen Preis: Qualifikation steht für Qualität. Deutschland, einst Land der Wertarbeit, ist dabei, sich ohne Not in einen Trödelmarkt zu verwandeln. Zum Tummelplatz der Schnäppchenjäger, Hochstapler und Z-Prominenten.

Wann genau hat es begonnen, das Zeitalter der Praktikanten, die, ohne einen Cent zu bekommen, Fachkräfte ersetzen sollen? Wann begann das Zeitalter der ausgelagerten Produktionen in Länder mit Niedriglöhnen? Irgendwann in den zwanzig Jahren nach dem Zusammenbruch der Gesellschaft, die sozialistisch sein wollte. Es folgten Hartz IV und Ein-Euro-Jobber, Leiharbeiter und Arbeitnehmer, die von ihrer Arbeit nicht leben können. Sie alle kriegen ihre Krise schon am Anfang des Monats, nicht erst am Ende.

Was jeder Arbeitnehmer in Deutschland Monat für Monat an Steuern aufbringt, ist etwas mehr als ein Drittel von dem, was er mit seiner Arbeit an Wert schafft. Ein Gemeinwesen, so viel ist klar, braucht, um sich finanzieren zu können, die Allgemeinheit, also auch mich. Doch was eigentlich finanziere ich? Infrastruktur, Staatsapparat, Behörden – dagegen lässt sich nichts einwenden. Ich mag auch nicht darüber klagen, dass ich Verfolgten aus aller Welt, die hier ein wenig Sicherheit finden, und Menschen, die nicht das Glück haben, noch arbeiten zu dürfen oder zu können, etwas unter die Arme greife: Man nennt das Solidarität. Die Krise kriege ich, wenn sich Familien wie Schaeffler, Porsche und Piech nicht schämen, den Staat um Unterstützung zu bitten. Sie bekommen den Hals nicht voll und haben sich deshalb verzockt. Wer schluckt hier wen, wen interessiert es? Es interessiert mich freilich sehr wohl, dass sie die Zukunft großer Betriebe und ihrer Beschäftigten riskieren. Würden die Werktore geschlossen, müsste der Staat für weitere Tausende Arbeitslose aufkommen. Und der Staat, wenn' ans Zahlen geht, bin ich! Verluste verstaatlichen, aber Gewinne privatisieren – Gerechtigkeit sieht anders aus.

Dieser Tage sagt man gern, die Gier einiger weniger habe die gegenwärtige Krise der Weltwirtschaft ausgelöst. Diesem Irrtum klärte unlängst im »Spiegel« der Publizist Cordt Schnibben auf. Nein, schrieb er, nicht »ein paar Hasardeure«, nicht der »regellose Casinokapitalismus der USA« seien Schuld an dem Malheur: »... dieser Blick auf die Welt ignoriert, dass die Marktwirtschaft, seit es sie gibt, durch die Marktkräfte zum Großen strebt, zum Ausschalten der Schwächeren, zu noch mehr Absatz, noch mehr Umsatz, noch mehr Gewinn.« Und: »Wie soll dieses System funktionieren ohne die Gier der Fabrikbesitzer, Manager und Banken?« Schon Karl Marx hat es ähnlich gesehen: Das Kapital sei gezwungen, Profit anzuhäufen, bei Strafe seines Untergangs. Dieser Untergang, nun ist er wieder mal schemenhaft am Horizont aufgeblitzt. So dass Cordt Schnibben weiterfragt: »Wenn das Gewinnstreben einiger weniger die Gesellschaft in die Krise führt, statt – wie immer behauptet – dem Gemeinwohl aller zu nützen, wie legitimiert sich dann Privateigentum?« Diese Legitimation findet er sogleich in den nächsten Fragen: »Was sind das für Politiker, die das Geschäftsgebaren der Großbanken ermöglicht, geduldet und gefördert haben? Und schließlich: Was ist das für eine Demokratie, in der diese Politiker von den Steuerzahlern und Wählern Zustimmung für diesen Lobbyismus erwarten?« Damit suggeriert er, das System wäre besser, wenn die Politiker es zähmten. Aber ist es denn zu zähmen? Und warum sollten Politiker nicht der Gier des Systems erliegen, wenn sie von ihm profitieren können? War das Wort »sozial« vor »Marktwirtschaft« nur so lange Schminke, wie man im Kampf der Systeme ein hübsches Gesicht brauchte?

Ich denke, ich bin kein gieriger Mensch. Deshalb ist es nicht mein System. Wie viele Menschen, die ich kenne, wünsche ich mir einen sicheren Arbeitsplatz, eine Wohnung, die ich bezahlen kann – alles andere richtet sich. Das kann und will mir das System nicht garantieren. Braucht es mich nicht mehr, stößt es mich ab. Ich und viele andere kriegen die Krise, wenn sie daran denken. Doch dass Zwiebelchen Ritter Tomate besiegt und gemeinsam mit den Herren Gurkenkürbis, Heidelbeere, Benno Birne und Peter Porree eine gerechte Welt aufbaut, halte ich heute für eine Mär. Deshalb möchte auch ich mir nicht vorstellen, dass der Kapitalismus untergeht – ich sehe keinen Zukunftsentwurf.

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