nd-aktuell.de / 29.05.2009 / Politik / Seite 2

»Für die kämpfst du nicht«

Erhard Stenzel desertierte aus der Wehrmacht und wurde dafür zum Tode verurteilt

Fabian Lambeck
Auf Antrag der LINKEN müssen Union und SPD heute im Bundestag begründen, warum sie das Thema »NS-Kriegsverräter« im Rechtsausschuss immer wieder von der Tagesordnung nahmen. Dabei zeigt der Fall des NS-Deserteurs Erhard Stenzel, wie unsinnig die bis heute geltende Unterscheidung zwischen Deserteuren und Kriegsverrätern ist.
Erhard Stenzel: Desertierte und kämpfte für die französische Résistance.
Erhard Stenzel: Desertierte und kämpfte für die französische Résistance.

Niemals wird Erhard Stenzel den 2. Mai 1933 vergessen. An jenem Frühlingstag standen SA-Männer vor dem Haus seiner Familie im sächsischen Freiberg: »Ich habe mit ansehen müssen, wie die Braunhemden meinen Vater abholten. Er war Kommunist«, erinnert sich der heute 84-Jährige. Unter Schlägen und Tritten beförderten die Nazis seinen Vater in einen bereitstehenden Lastwagen. Es wurde eine Fahrt ohne Wiederkehr. Erhard Stenzel sollte seinen Vater nie wieder sehen.

Im Herbst 1942 wurde der mittlerweile Siebzehnjährige dann zur Wehrmacht eingezogen. Doch Erhard Stenzel schwor sich: »Für die kämpfst du nicht an der Front.« Die Wehrmacht war gewarnt, denn seine Akte eilte ihm stets voraus. Als Sohn eines Kommunisten und KZ-Häftlings war er den Nazis nicht geheuer. Man versetzte den jungen Mann deshalb an die nördlichste Grenze des braunen Machtbereichs. »Oberhalb von Hammerfest, also weit über dem Polarkreis, musste ich Wache in einem Bunker schieben«, erzählt Erhard Stenzel. Doch im Dezember 1943 wurde er nach Nordfrankreich versetzt. So schnell wie möglich nahm er Kontakt zur französischen Résistance auf und gab sich als Kommunist zu erkennen.

Sein Kontaktmann, ein Schuhmacher aus dem deutschsprachigen Elsass, ermunterte ihn, die Fronten zu wechseln. Wenig später entwaffnete Erhard Stenzel auf einem Patrouillengang seine beiden Kameraden und setzte sich mit deren Waffen ab. »Am 3. Januar 1944 wurde ich offiziell in die Résistance und die Kommunistische Partei Frankreichs aufgenommen«, blickt Erhard Stenzel zurück. Fortan kämpfte er gegen die in Frankreich wütenden SS-Bataillone. Seine kleine Widerstandsgruppe war international besetzt: Luxemburger, Österreicher, Schweizer und Franzosen aus Elsass-Lothringen. »Wir sind schon damals gute Europäer gewesen«, schmunzelt der rüstige Rentner heute.

In Frankreich verlieh man dem jungen Widerstandskämpfer die Tapferkeitsmedaille; in Deutschland verurteilte man ihn in Abwesenheit zum Tode. Erhard Stenzel lief zum Feind über, das hätte laut Militärstrafgesetzbuch als »Kriegsverrat« geahndet werden müssen. Doch Stenzel hatte »Glück«, die NS-Richter hielten ihn für einen Deserteur. Zwar änderte das nichts am Todesurteil, doch als verurteilter Deserteur ist Erhard Stenzel seit dem Jahre 2002 offiziell rehabilitiert. Die damalige rot-grüne Bundesregierung hob die Urteile gegen Wehrmachtsdeserteure und Kriegsdienstverweigerer auf. Mehr als 50 Jahre galten jene, die sich dem Morden entziehen wollten, in der Bundesrepublik als vorbestraft. Für die Union war schon die Aufhebung dieser Urteile eine Zumutung. So schimpfte Norbert Geis, der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, er werde »in keinem Fall Bestrebungen nachgeben, den Deserteuren von vornherein einen Persilschein auszustellen«.

Trotz des Widerstands der Union wurden die Urteile am 17. Mai 2002 aufgehoben. Doch beim Thema »Kriegsverräter« mauerte selbst die SPD. Ausdrücklich waren die »Kriegsverräter« von der Rehabilitierung ausgenommen. Noch im Jahre 2007 weigerte sich die sozialdemokratische Justizministerin Zypries, die Verurteilten pauschal zu rehabilitieren. Auch der Umstand, dass dieser Kriegsverrat »während eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges« begangen worden sei, könne »keinen Anlass zur pauschalen Rehabilitierung begründen«, so die Ministerin in einem Brief an Ludwig Baumann, einen verurteilten NS-Deserteur, der sich seit Jahrzehnten für die Aufhebung der NS-Urteile einsetzt.

Dabei ist der Kriegsverrats-Paragraf 91b unvereinbar mit rechtsstaatlichen Grundsätzen, wie der ehemalige Verfassungsrichter Hans Hugo Klein bestätigt. Er sei vor allem sehr schwammig formuliert gewesen, kritisiert Klein. Ein wahrer »Gummi-Paragraf«, mit dem man die unteren Dienstgrade der Wehrmacht einschüchtern und disziplinieren wollte. Es genügte den Nazi-Richtern schon, wenn jemand wie der Schütze August Fiereck mit serbischen Kriegsgefangenen Karten spielte, um als »Verräter« zu enden. Einem anderen Wehrmachtssoldaten wurden kritische Tagebucheintragungen zum Verhängnis, wie der Historiker Wolfram Wette in seinem Buch »Das letzte Tabu« schreibt. Mehr als 30 000 Menschen wurden wegen angeblichen Kriegsverrats zum Tode verurteilt; Zehntausende landeten im Zuchthaus.

Doch der Union geht es hier um Grundsätzliches. Einige Konservative wollen die NS-Justiz nicht pauschal als Unrechts- und Willkürjustiz verunglimpft sehen. Und durch die pauschale Rehabilitierung von Kriegsverrätern würden alle dementsprechenden NS-Urteile automatisch zu Unrechtsurteilen, wie der CSU-Parlamentarier Norbert Geis beklagt. Man will das Andenken an NS-Juristen, wie den »Blutrichter« und späteren CDU-Ministerpräsidenten Hans Filbinger, offenbar in Ehren halten. Marinerichter Filbinger hätte den Soldaten Erhard Stenzel zweifelslos zum Tode verurteilt, egal ob nun wegen Kriegsverrats oder Fahnenflucht.